Eine Gefahr für sich oder andere?
Am vergangenen Freitag verletzte eine 39-jährige Frau mit einem Messer 18 Personen am Hamburger Hauptbahnhof. Die mutmaßliche Täterin war psychisch krank und erst einen Tag zuvor aus einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung entlassen worden. Der Fall berührt Fragen nach dem Umgang mit Menschen, die gegen ihren Willen untergebracht werden, weil sie andere potenziell gefährden könnten – und nach der schwierigen Abwägung zwischen individuellen Rechten und dem Schutz der Allgemeinheit. Die wichtigsten Antworten.
Wie häufig kommt es zu sogenannten Zwangseinweisungen?
Laut Statistischem Bundesamt wurden im Jahr 2023 rund 690.000 erwachsene Patientinnen und Patienten in einer psychiatrischen Einrichtung versorgt. Man schätzt, dass etwa zwanzig Prozent aller Einweisungen in psychiatrische Kliniken unfreiwillig geschehen, viele davon, weil die Gefahr besteht, dass sich Menschen selbst gefährden. Experten gehen davon aus, dass etwa ein Viertel der Zwangseingewiesenen – offiziell spricht man von Unterbringungen – eine Gefahr für andere darstellt. Demnach handelt es sich um etwa 35.000 Personen in Deutschland. "Aber nur bei den allerwenigsten davon besteht die Gefahr darin, dass sie mit dem Messer auf andere losgehen würden", sagt Tilman Steinert. Steinert ist der federführende Autor der medizinischen Leitlinie "Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen", die sich genau mit solchen Fällen befasst. Bis zum vergangenen Jahr war er Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Weissenau, die zur Universität Ulm gehört.
Welche rechtlichen Voraussetzungen gibt es?
Grundlage bilden Gesetze der 16 Bundesländer, die sich voneinander unterscheiden, aber in einem Punkt ähneln: Die Gefahr muss "akut und erheblich" sein, damit jemand gegen seinen Willen untergebracht werden kann, so geben es die Gesetze vor. Das ist eine hohe Hürde – die aber einen guten Grund hat: Der Staat möchte zwar nicht, dass gefährliche, psychisch kranke Menschen frei herumlaufen, er will aber auch die Bürgerrechte schützen – niemand soll aus nichtigen Gründen in eine psychiatrische Klinik eingesperrt werden. Und man müsse eines dabei bedenken, sagt Steinert: Die Unterbringung psychisch kranker Menschen sei "die einzige Möglichkeit der präventiven Gewaltverhinderung durch Freiheitsentzug, die wir in Deutschland haben". Tatsächlich laufen mehr als 550 polizeibekannte Gefährder frei herum, von denen man annimmt, dass sie sogar Terroranschläge begehen könnten. Die aber kann man nicht einsperren, solange sie nichts getan haben.
Bei welchen Erkrankungen ist das Risiko besonders groß?
Werden Menschen gewalttätig, sind häufig akute Psychosen dafür verantwortlich, denen eine Schizophrenie zugrunde liegt. Die Betroffenen leiden dann etwa an Wahnvorstellungen, fühlen sich verfolgt. Auch Suchterkrankungen spielen eine große Rolle. Das größte Risiko aber entstehe aus einer "nicht behandelten Psychose plus Substanzmissbrauch", sagt Tilman Steinert. "Wobei die gefährlichste der uns bekannten Substanzen der Alkohol ist." Egal, was die Ursache für das auffällige Verhalten ist: Die Betroffenen bringt dann meist die Polizei in die Kliniken. Häufig wird auch der sozialpsychiatrische Dienst der Gesundheitsämter eingeschaltet, so wie es wohl im Fall der mutmaßlichen Täterin in Hamburg war.
Wer entscheidet über die Unterbringung?
Allein Richterinnen und Richter. Ärztinnen und Ärzte stellen nur ein Zeugnis aus, in dem nicht nur beschrieben sein muss, dass der Patient etwa eine akute Psychose mit Wahnvorstellungen hat, sondern dass diese auch der Grund für das bereits beobachtete gewalttätige Verhalten ist – dass er also zum Beispiel Wahnvorstellungen hat und sich von bestimmten Menschen bedroht fühlt, sich deswegen vielleicht sogar bewaffnet hat oder eine tätliche Auseinandersetzung hatte. In einigen Bundesländern können Patienten auch bis zu 24 Stunden ohne richterlichen Beschluss gegen ihren Willen in einer Klinik aufgenommen werden. Was das Gericht allerdings nicht automatisch mitentscheidet, ist die Behandlung. Die Patienten können sich beispielsweise der Einnahme von Medikamenten verweigern. Eine zwangsweise Behandlung erfordert ein ausführliches Gutachten und eine weitere gerichtliche Entscheidung mit hohen Anforderungen.
Was ist mit Menschen, die ankündigen, Suizid begehen zu wollen?
Suizidandrohungen sind häufig, und sie sind einer der möglichen Gründe dafür, dass Patienten zwangsweise eingewiesen werden. Da aber ein Suizid per se nicht verboten ist, wenn Menschen frei verantwortlich handeln, haben sie laut einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2020 auch das Recht darauf, sich das Leben zu nehmen – unabhängig von ihren Motiven. Nur weiß man bei jemandem, der mit Suizid droht, häufig erst mal nicht, ob er oder sie tatsächlich frei verantwortlich handelt oder akut psychisch krank ist.
Auch Alkohol kann für Suizidgedanken verantwortlich sein. Im Rausch kämen manche Menschen auf die Idee, sich das Leben zu nehmen, und würden nach einem Suizidversuch von Freunden in die Klinik gebracht, erzählt Steinert. Wenn sie dann ausgenüchtert seien, seien auch die Gedanken an einen Suizid sehr häufig verschwunden, und die Patienten fragten sich, wie sie auf die Idee gekommen seien.
Wie lange dürfen Patienten gegen ihren Willen in einer Klinik festgehalten werden?
Das hängt vom Bundesland ab. In Baden-Württemberg ordnen die Gerichte vier bis sechs Wochen an, in norddeutschen Bundesländern nur eine Woche. "Das steht aber in keinem Gesetz, sondern ist eine Konvention, die sich von Bundesland zu Bundesland unterscheidet", sagt Steinert. Läuft die Behandlung nach Plan, wird der Patient nach diesem Zeitraum entlassen. Sehen die Ärzte weiteren Behandlungsbedarf, müssen sie beim Gericht eine Verlängerung beantragen. Auch wenn dann die Gefahr für andere nicht mehr "akut und erheblich" ist, wie es die Gesetze eigentlich vorgeben, wüssten die Richter bei manchen Patienten, dass die Behandlung deren Zustand "wahrscheinlich noch bessert, wenn die länger bleiben", sagt Steinert. Die Patienten haben allerdings ein Beschwerderecht: "Sie müssen bloß auf einen Zettel schreiben: ›Ich bin nicht einverstanden‹", sagt Steinert, "dann muss sich die nächsthöhere Instanz damit befassen."
Wie effektiv ist eine Behandlung?
Eine Therapie reduziert ganz erheblich das Risiko, eine Gewalttat zu begehen, das ist wissenschaftlicher Konsens. Menschen, die gut behandelt zu Hause leben, vielleicht sogar berufstätig sind, haben kein erhöhtes Gewaltrisiko. Deswegen ist es auch entscheidend, in welches Umfeld jemand entlassen wird. Eine betreute psychiatrische Wohneinrichtung ist sehr viel weniger riskant als eine Obdachlosenunterkunft. Allerdings kann man Menschen keine Behandlungsauflage machen, wenn sie entlassen werden, auch nicht solchen, die wegen Fremdgefährdung gerichtlich untergebracht worden sind. "Selbst wenn man weiß, dass sie die Medikamente sofort absetzen, dürfen sie das tun", sagt Steinert. Ob hier weitere gesetzliche Regelungen hilfreich seien, werde derzeit diskutiert.
Wie können sich die Ärzte sicher sein, dass ein Patient niemanden gefährdet?
Das können sie nicht. "Wir Psychiater können nicht ins Gehirn der Patienten schauen. Selbstverständlich irren wir uns auch mal." So drückt Tilman Steinert es aus. Seltene Ereignisse vorherzusagen, sei sehr schwierig. Es komme auch äußerst selten dazu, dass die Patienten anderen tatsächlich schwere Gewalt antun. Besonders schwierig wird es, wenn die Ärzte die Krankengeschichte nicht kennen. Wenn eine Patientin etwa an verschiedenen Orten auffällig, sogar gewalttätig geworden ist, wie es wohl bei der mutmaßlichen Täterin in Hamburg der Fall war, dann wissen die behandelnden Psychiater wie auch die Ordnungsämter und Gerichte womöglich nichts davon. Diese Daten werden nicht ausgetauscht. Dann haben sie beispielsweise eine Patientin vor sich, die wegen Selbstmordgedanken eingeliefert wurde. Nach ein paar Tagen steht sie nicht mehr unter Drogeneinfluss und versichert, sich nicht mehr umbringen zu wollen. Von ihrer Vorgeschichte erzählt sie nichts. "Ich habe in meinem Berufsleben sehr viele Patienten aufgenommen, und niemand hat mir dabei je gesagt, dass er schon mal eine Straftat verübt hat und im Gefängnis war", erklärt Steinert. Ohne Kenntnis der Vorgeschichte müsse man solche Patienten entlassen. Im Übrigen sei noch etwas wichtig für die Risikoabschätzung: das Geschlecht. Frauen gingen normalerweise nicht mit dem Messer auf andere Menschen los, sagt Tilman Steinert. "Ob mit oder ohne Psychose: Es sind nahezu ausschließlich Männer, die schwere Gewalttaten wie Amoktaten oder Terrordelikte begehen."
Mitarbeit: Tom Kroll