Kinder hungern, Ärzte werden im OP ohnmächtig

Zuerst verbraucht der hungernde Körper die Zuckerreserven, die in Muskeln und Leber gespeichert sind, dann, wenn er weiter nichts zu essen bekommt, das Fett, dann die einzelnen Eiweißbausteine, aus denen die Muskeln bestehen, irgendwann sogar die Mineralstoffe der Knochen. Streng rationiert er die wenige Energie, die er noch hat. Er konzentriert sich darauf, dass Herz und Gehirn weiterarbeiten. Der Herzschlag wird langsamer, die Körpertemperatur sinkt, bei Kindern kann sich der Bauch mit Wasser fühlen, weil im Blut zu wenige Proteine sind, um das Wasser zu binden. Und irgendwann streiken die Organe. Dann stirbt der hungernde Mensch.

In Gaza sind dieses Jahr bereits 74 Menschen an Mangelernährung gestorben, allein 63 davon im Juli, darunter 25 Kinder, teilte die Weltgesundheitsorganisation WHO am Sonntag mit. Und das könnte erst der Anfang sein: In Gaza-Stadt sei fast ein Fünftel aller Kinder unter fünf Jahren akut mangelernährt, dreimal so viele wie noch im Juni, schreibt die WHO.

Am Dienstag meldete sich dann auch die IPC zu Wort, eine von verschiedenen Hilfsorganisationen wie Oxfam und dem Welternährungsprogramm (WFP) unterstützte Initiative, die den Hunger in der Welt überwacht. Es entfalte sich gerade das Worst-Case-Szenario, eine Hungersnot, heißt es dort. Der Direktor des WFP, Ross Smith, sagte bei der Vorstellung des Berichts, die Situation sei schlimmer als alles, was man in diesem Jahrhundert gesehen habe: "Es erinnert uns an vergangene Katastrophen in Äthiopien oder Biafra."

Einer von drei Menschen isst tagelang nichts

Die IPC kennt fünf Warnstufen. Galt im Mai in vielen Teilen des Gazastreifens noch Warnstufe drei oder vier (weitreichende Lebensmittelunsicherheit), sei nun flächendeckend Warnstufe fünf erreicht: eine Hungersnot, gekennzeichnet durch einen "extremen Mangel an Essen", "Hunger, Tod, Elend" und "extrem kritische akute Mangelernährung". Es ist selten, dass das IPC Stufe 5 ausruft, zuletzt war das 2024 für Gebiete im Sudan der Fall, davor 2020 und 2017 im Südsudan und 2011 in Äthiopien.

Die Zahl der Haushalte, in denen extremer Hunger herrsche, habe sich seit Mai verdoppelt, schreibt die IPC. Einer von drei Menschen müsse inzwischen teils tagelang ohne Essen auskommen. Mehr als 20.000 Kinder seien zwischen April und Mitte Juli wegen Mangelernährung in einem Krankenhaus behandelt worden, über 3.000 davon waren schwer mangelernährt.

Ähnliches berichtet auch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, die noch im Gazastreifen tätig ist. Ein Viertel aller Kinder unter fünf und ein Viertel aller schwangeren und stillenden Frauen, die bei Ärzte ohne Grenzen Hilfe suchen, seien mangelernährt. Im Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen in Gaza-Stadt habe sich die Zahl der Behandlungen wegen Mangelernährung seit dem Mai vervierfacht. Der Anteil schwerer Mangelernährung bei Kindern unter fünf Jahren habe sich allein in den vergangenen zwei Wochen verdreifacht.

Inzwischen häufen sich auch die Berichte von medizinischem Personal, das hungert. In einem Bericht schildert CNN, dass sich zwei Ärzte in einem 24-Stunden-Dienst eine Schüssel Reis teilen müssen. Immer wieder würden Ärzte und Krankenschwestern ohnmächtig, teils während Operationen, erzählt der Leiter des Al-Ahli-Al-Arabi-Krankenhauses, Fadel Naim, bei CNN. Es ist etwas, das auch Caroline Willemen, Projektkoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen in Gaza-Stadt, beobachtet: "Wir sehen die Erschöpfung und den Hunger auch bei unseren eigenen Kolleg*innen." Ein Bündnis von mehr als 100 Hilfsorganisation schrieb, die eigenen Kollegen würden "dahinsiechen".

Viele Suppenküchen machen zu – weil sie nichts zu kochen haben

Mitte Mai hatte die israelische Regierung die Einfuhr von Lebensmitteln in den abgeriegelten Gazastreifen zunächst komplett blockiert und dann stark eingeschränkt. Die IPC-Initiative schätzt, dass die Menschen im Gazastreifen mindestens 62.000 Tonnen Lebensmittel pro Monat brauchen. Im Mai kam davon nach Schätzungen gerade einmal ein Drittel, im Juni und Juli ungefähr die Hälfte an. Dazu kommt, dass das Essen sehr unausgewogen ist. Oftmals fehlen frische Produkte wie Gemüse, Fleisch oder Fisch gänzlich. Die Preise für die wenigen Lebensmittel, die es noch auf den Märkten gibt, steigen stark.

Viele Suppenküchen, auf die die Menschen in Gaza dringend angewiesen sind, können aktuell kein Essen mehr anbieten. Am 20. Juli waren es nur noch rund 160.000 Mahlzeiten – ein Drittel dessen, was sie im Mai pro Tag verteilten, heißt es von der IPC. Auch Ärzte ohne Grenzen musste in den vergangenen Wochen nach eigenen Angaben zahlreiche Gemeinschaftsküchen schließen, die Patientinnen und medizinisches Personal in Krankenhäusern mit Essen versorgen.

Schnelle Abhilfe soll nun das Abwerfen von Lebensmitteln aus der Luft bringen. Optimal aber ist das nach Ansicht von Hilfsorganisationen nicht. Es sei das "letzte Mittel, wo es keine anderen logistischen Möglichkeiten gibt", sagt etwa Ross Smith vom Welternährungsprogramm. Eine Versorgung durch die Luft sei zu teuer, ineffizient und bringe vor allem "extreme Risiken mit sich". Tatsächlich ist die Gefahr groß, dass die Paletten mit Lebensmitteln eines der Tausenden Zelte treffen, in denen inzwischen ein Großteil der Menschen im Gazastreifen lebt. Außerdem können per Luft nicht so viele Lebensmittel in den Gazastreifen gebracht werden wie nötig.

Mangelernährung hat langfristige Folgen

Ein Ende des Hungers ist aktuell also nicht in Sicht. Und selbst wenn die Menschen im Gazastreifen bald wieder mehr Nahrungsmittel bekommen sollten, bleiben Probleme. Menschen, die lange gehungert haben, müssen langsam wieder ans Essen herangeführt werden. Sonst droht das sogenannte Refeeding-Syndrom: Als Reaktion auf einen plötzlich wieder ansteigenden Blutzuckerspiegel kommt es im Körper zu mitunter heftigen Verschiebungen der Elektrolyte, die im schlimmsten Falle tödlich enden können.

Um die schlimmen Folgen zu verhindern, müssten viele der Menschen, die jetzt hungern, unter engmaschiger medizinischer Kontrolle stehen, oftmals brauchen sie zum Beispiel Elektrolyte wie Kalium per Infusion. Nur dürfte das in der Fläche und bei einem in weiten Teilen zerstörten Medizinsystem kaum möglich sein. Aktuell gibt es laut WHO nur vier auf die Behandlung von Mangelernährung spezialisierte Zentren.

Nicht zu vergessen sind auch die langfristigen Folgen extremer Mangelernährung. Übersichtsarbeiten zeigen, dass Kinder, die hungern mussten, später im Leben möglicherweise ein erhöhtes Risiko haben, herzkrank zu werden oder Stoffwechselstörungen zu entwickeln. Besonders betroffen ist dabei das Gehirn, das sich bei Kindern noch entwickelt und daher besonders viele Nährstoffe braucht. Kinder, die einmal mangelernährt waren, zeigen später im Leben mit größerer Wahrscheinlichkeit kognitive Entwicklungsprobleme und sind schlechter in der Schule.

Manche Kinder wird die Hungerkrise in Gaza also ihr Leben lang begleiten. Der einzige Ausweg, damit es nicht noch mehr werden: ein baldiges Ende des Hungers.