Es wäre die Mondlandung der Genforschung
Gentherapien können Menschen retten. Etwa wenn jemand am Non-Hodgkin-Lymphom erkrankt ist, eine diffuse Krebsart, die die weißen Blutkörperchen befällt, sich über sie im ganzen Körper verteilt und nicht wegzuoperieren ist. Erst seit wenigen Jahren gibt es eine neue Waffe dagegen: die CAR-T-Zelltherapie. Dabei werden Immunzellen genetisch so verändert, dass sie den Krebs erkennen und der Körper ihn selbst bekämpfen kann. Und die CAR-T-Therapie funktioniert noch bei vielen weiteren Erkrankungen. Sie könnte, wie andere Gentherapien, eine absolute Erfolgsgeschichte werden. Könnte. Denn Gentherapien sind aufwendig und teuer, noch dazu haben wir noch immer nicht ganz verstanden, wie die Gene unsere Gesundheit beeinflussen.
Ein Ende Juni gestartetes Projekt aus Großbritannien könnte das ändern. Dort haben Forscher das Synthetic Human Genome Project gestartet, das für die nächsten fünf Jahre mit zehn Millionen Pfund durch den Wellcome Trust gefördert wird, eine der weltweit größten medizinischen Wohltätigkeitsorganisationen. Das Ziel ist es, ein komplett künstliches menschliches Chromosom zu erschaffen, eines Tages vielleicht ein ganzes Genom. Damit wollen die Forscher das Wissen über menschliche Gene fundamental erweitern.
"Da draußen gibt es eine ganze Reihe interessanter klinischer Daten, die wir schlichtweg nicht verstehen", sagt Tom Collins, leitender Wissenschaftler für Entdeckungsforschung bei Wellcome. Denn nicht selten beobachten Ärzte, dass sich die Körper von Patienten anders verhalten, als sie erwarten, beispielweise als Reaktion auf eine Therapie. "Diese Methoden werden uns hoffentlich ermöglichen, aufzudecken, wie und warum die DNA-Sequenz und Variationen darin so wichtig für unsere Gesundheit sind." So wollen die Forscher, das ist die große Hoffnung, Therapiemöglichkeiten für bislang unheilbare Krankheiten finden – oder diese sogar verhindern.
Klingt riesig. Und dennoch: Die Aussicht auf ein künstliches Menschengenom wirft ethische Fragen auf. Was dürfen Forscher mit künstlichen Genen tun und was nicht? Welche Missbrauchsgefahren gehen damit einher? Und wird mit solch einer Technologie nicht der Weg bereitet, menschliche Körperteile oder gar ganze Designer-Menschen zu erschaffen?
In der dunklen Seite des Genoms
Wem der Name des Projekts vertraut vorkommt, der erinnert sich womöglich an das 1990 gestartete Human Genome Project, als dessen kleine Schwester das Projekt gelten kann. Damals sequenzierten Forscher erstmalig ein komplettes menschliches Genom und beschrieben, wie sich die vier Basen Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin, aus denen DNA gemacht ist, im Menschen zusammensetzen. 13 Jahre brauchten sie dafür, denn das menschliche Genom besteht aus mehr als drei Milliarden Paaren aus je zwei dieser Basen. Ausgedruckt als Buchstabenabfolge würde es 109 dicke Bücher mit je knapp 1.000 eng beschriebenen Seiten füllen. Ein ganzes Bücherregal.
Diese Sequenzierung des Genoms half dabei, den menschlichen Körper und vor allem, wie er funktioniert, viel besser zu verstehen. Schließlich sind die Gene im Grunde die Bauanleitungen aller Proteine, aus denen wir gemacht sind. Und dennoch erkannten die Forscher: Das Genom lesen zu können, bedeutet nicht zwangsläufig, es zu verstehen. Womöglich aber, genau das ist die Idee beim Synthetic Human Genome Project, wenn man es selbst schreiben kann.
"Hochspannend und zeitgemäß" findet Malte Spielmann, Direktor des Instituts für Humangenetik am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, diese Idee. Gegenüber dem Science Media Center (SMC) verdeutlicht er, wie begrenzt das aktuelle Wissen über das menschliche Genom noch ist. "Über circa 98 Prozent der DNA – die sogenannte nicht-codierende DNA – wissen wir noch sehr wenig. Doch gerade in dieser 'dunklen Seite des Genoms' könnte ein enormes Potenzial verborgen liegen – für das Verständnis der menschlichen Biologie und die Entwicklung neuer Therapien."
Wie Chemiker künstliche Gene bauen
Das künstliche Genom wollen die Wissenschaftler nun aus künstlicher DNA bauen. Solche synthetische DNA ist nicht gänzlich neu. Doch längere Stücke aus ihr zusammenzusetzen, ist umständlich und teuer – und bislang nicht mal annähernd in der Größenordnung eines gesamten Menschengenoms versucht worden. Die künstlichen DNA-Sequenzen, die bislang an einem Stück gemacht werden können, würden als Buchstaben aufgeschrieben im oben genannten Bücherregal nicht mal eine halbe Seite eines einzigen Buches füllen.
Die synthetische DNA bauen die Forscher aus sogenannten Phosphoramiditen, das sind kleinste Phosphorverbindungen, die eine Vorstufe der vier Basen bilden. Die Forscher setzen dann Phosphoramidit für Phosphoramidit aneinander, bis sie eine etwa 200 Bausteine lange Kette haben. Mehr geht nicht, da sonst Fehler entstehen würden. Um das zu verhindern, kleben sie anschließend Kette um Kette aneinander. Was einiges an Zeit kostet – denn um auf diesem Weg allein ein einziges künstliches Chromosom zu bauen, müssen sie den Zusammenklebe-Schritt rund 300.000 Mal wiederholen.
Und genau das ist das erste Teilziel der Forscher: ein künstliches Chromosom zu erstellen. Gelinge das, ginge theoretisch auch ein aus 46 Chromosomen bestehendes Genom, sagt Collins. Doch auch schon ein einzelnes Chromosom ist eine große Herausforderung. Michael Knop, Biologe und Gruppenleiter am Zentrum für Molekulare Biologie der Universität Heidelberg, sagte dem SMC: "Die Synthese eines menschlichen Chromosoms ist ein sehr komplexes Unterfangen und wäre eher wie die Mondlandung. Das komplette Genom wäre der nächste Stern: noch lange Zeit unerreichbar."
Wie ein künstliches Chromosom der Gesundheit helfen soll
Doch wie genau würde ein solches synthetisches Chromosom zum medizinischen Fortschritt beitragen? "Nehmen wir ein Chromosom mit vielleicht tausend Genen darauf", sagt Colins. Sei es wichtig, dass Gen A dort sitze, wo es sei? Mache es etwas aus, wenn man es mit Gen B oder Gen C tausche? "Wir wissen es einfach nicht." Aber synthetische DNA erlaube es, "menschliches Genmaterial ganz anders zu manipulieren".
Man denke zum Beispiel an jemanden, der an Hepatitis C leide, einer durch das Hepatitis-C-Virus hervorgerufene Entzündung der Leber. Es wäre denkbar, sagt Collins, mit der Technologie eines Tages eine Leberstammzelle zu entwerfen, die resistent gegen Hepatitis sei. Diese könne man anschließend "mit den Zellen des Patienten tauschen, dann würde ihm praktisch eine immune Leber wachsen".
Der deutsche Biologe Knop sieht noch ein weiteres zentrales Anwendungsgebiet: "Besonders bei der Immunzelltherapie gegen Krebs könnte es durch das Projekt schon bald große Fortschritte geben." Erkenntnisse aus dem Projekt könnten also vor allem in Fällen wie dem eingangs geschilderten mit der CAR-T-Zelltherapie helfen – sie könnten insbesondere Gentherapien voranbringen. Künstliche DNA würde es einfacher – und damit vermutlich billiger – machen, Gene für die Therapie zu verändern. Für manch eine Gentherapie, die bislang nur hypothetisch existiert, würde es damit überhaupt erst möglich, sie zu erforschen und zu entwickeln. Und sogar für ganze Krankheiten könnte das Projekt beitragen, ihre genetischen Ursachen besser zu verstehen.