Warum Frauen eher als Männer an ihrem Herzinfarkt sterben

Wie es um die Herzen der Deutschen steht? Besser als früher. So steht es im 36. Deutschen Herzbericht, der am Donnerstag erschienen ist. Eigentlich eine gute Nachricht – gäbe es im Bericht nicht diese eine Auslassung, die ein großes Problem praktisch unsichtbar macht, das vorwiegend Frauen trifft.

Aber zunächst zu den Good News: Die Wahrscheinlichkeit, an einem akuten Herzinfarkt zu sterben, ist von 2011 bis 2023 bei Männern wie Frauen um etwas mehr als 30 Prozent gesunken, hält der Herzbericht fest. Prävention, Notfallversorgung, Therapien, Rehabilitation und Medikamente seien seitdem besser geworden.

Ähnliche positive Entwicklungen gibt es bei koronaren Herzerkrankungen allgemein, zu denen der akute Herzinfarkt zählt, bei Herzklappenerkrankungen, Herzrhythmusstörungen oder Herzinsuffizienz: 2023 starben zwar noch rund 211.000 Personen an einem Herzleiden, aber das sind fast 6.000 weniger als ein Jahr zuvor. Überall sank die Sterblichkeit, bei Frauen sogar etwas schneller als bei Männern.

Nun ist der Deutsche Herzbericht der Bericht zur Herzgesundheit in Deutschland. Ärzteschaft, Politik und Forschung orientieren sich an ihm. Eine wertvolle und wichtige Informationsquelle nannte der CDU-Politiker Georg Kippels, parlamentarischer Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium, den Bericht, während ihn die Deutsche Herzstiftung am Donnerstag präsentiert hat. Man werde den Herzbericht nahtlos in die Arbeit des Ministeriums implementieren, sagte Kippels.

"Diese Frage wird in diesem Bericht leider nicht adressiert"

Worüber der Bericht den Staatssekretär allerdings nicht informiert: dass es womöglich vermeidbar wäre, dass in deutschen Krankenhäusern Frauen eher an einem Herzinfarkt sterben als Männer.

Im Herzbericht sieht man lediglich die Zahlen, die zeigen, dass Herzinfarkte primär Männer treffen. 2023 hatten 187.000 Männer einen akuten Herzinfarkt, bei Frauen waren es knapp 60.000. Den Hinweis, dass Frauen überproportional häufig daran sterben, muss man sich auf anderen Seiten zusammenklauben: 26.400 verstorbene Männer, 17.400 Frauen. Gemessen an der Fallzahl sterben Frauen also eher.

Woran das liegt? "Diese Frage wird im Bericht leider nicht adressiert", schreibt eine Sprecherin. Tanja Rudolph, Oberärztin an der Klinik für Allgemeine und Interventionelle Kardiologie am Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum und eine der Autorinnen des Berichts, ergänzt auf Anfrage: Für den Herzbericht lägen nur allgemeine Daten zur Mortalität vor.

Geschlechtsspezifische Daten darüber, wie hoch das individuelle Risiko für Männer und Frauen ist, an einer Herzerkrankung zu sterben, müssten separat angefordert werden, was leider zeitintensiv sei. "Die Abbildung dieser wichtigen Daten wäre natürlich im Rahmen des Herzberichts extrem wünschenswert", schreibt Rudolph. "Inwiefern dies für zukünftige Datenanalysen des Deutschen Herzberichts Berücksichtigung finden könnte, bedarf der Klärung durch die Herausgeber des Herzberichts."

Frauen haben eine langsamere Door-to-Balloon-Time

Wichtig wäre es. Schließlich wird die Debatte, warum Frauen in Krankenhäusern ein höheres individuelles Risiko haben als Männer, an einem Herzinfarkt zu sterben, seit Jahren geführt – nur nicht im einflussreichen Herzbericht. Und das, obwohl es seit Jahren, eigentlich seit Jahrzehnten, deutliche Hinweise darauf gibt, dass Frauen zwar seltener einen Infarkt haben, aber dann ihre Prognose deutlich schlechter ist als die von Männern.

Zwar treten bei Männern die meisten Herzinfarkte zwischen 68 und 76 auf und bei Frauen im Schnitt erst zehn Jahre später – sie haben also allein wegen ihres höheren Alters mehr Begleiterkrankungen und ein größeres Sterberisiko. Der Alterseffekt lässt sich aber herausrechnen, ein Geschlechterunterschied bleibt. Eine ganze Reihe von Studien aus Deutschland legen das nahe. Diese hier aus München kommt zu dem Schluss: Es liegt wahrscheinlich nicht nur am Alter, dass Frauen eher an einem Infarkt sterben, sondern auch an der Art der Behandlung.

Eine Studie unter 25.000 Patientinnen und Patienten aus Berlin-Brandenburg zeigte, dass zwischen 2010 und 2019 17,3 Prozent der Männer, aber 23,6 Prozent der Frauen im Krankenhaus an einem Herzinfarkt starben – alle in der gleichen Altersgruppe über 75 Jahre. Und eine umfassende Datenanalyse aus dem Jahr 2020 untersuchte 3,7 Millionen Herzinfarkt-Fälle in Deutschland. Das Ergebnis: "Je jünger der Patient, desto höher das Sterberisiko bei Frauen im Vergleich zu Männern." Auch wenn die Daten an das höhere Alter der Frauen angepasst würden: Der Nachteil der Frauen bleibe und sei in allen Altersgruppen "robust" – ein angesichts des Umfangs der Studie besonders relevanter Befund.  

Ein möglicher Grund könnte sein, dass Männer nach den ersten Herzinfarkt-Symptomen schneller in die Klinik kommen, weil Frauen zum Teil andere, diffusere Symptome haben – weniger Druck auf der Brust, sondern eher allgemeine Schwäche oder Luftnot. Im Krankenhaus wiederum haben sie eine langsamere Door-to-Balloon-Time: Bei Frauen dauert es also länger, bis die verschlossenen Herzgefäße mit einem Ballonkatheter wieder geöffnet werden, was die Chance, zu überleben, senkt. Außerdem seien neue, innovative Behandlungsmethoden bei Männern schneller in der klinischen Praxis angekommen als bei Frauen, schreiben die Autoren der Datenanalyse.

"Für einen Mann mit 80 Kilo ist das richtig"

Eine Reihe an Kardiologinnen und Kardiologen fordert nun ein Umdenken. Eine Arbeitsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) zeigte im vergangenen Jahr erstmals die Notwendigkeit geschlechtsspezifischer Behandlungen bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen auf, wozu nicht nur der klassische Herzinfarkt, sondern auch Bluthochdruck, koronare Herzkrankheit oder Schlaganfall gehören. Ein Beispiel aus dem Positionspapier: Generell steigt bei einem systolischen Blutdruck über 120 bei Frauen und Männern das Risiko für Herzinfarkte oder Schlaganfälle deutlich an. Bei Frauen tritt das Risiko aber schon bei einer geringeren Erhöhung als bei Männern ein. Sie müssen also früher behandelt werden und mit anderen Dosen üblicher Blutdrucksenker. Was oft nicht passiere, weil in den Leitlinien nicht nach Geschlechtern differenziert werde, heißt es in dem Positionspapier.

Eine internationale Arbeitsgruppe der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie hat außerdem kürzlich erstmals ein Positionspapier vorgestellt, der konkrete Vorschläge macht, wie Frauen bei Herzinfarkten spezifischer und damit besser behandelt werden können. Die Kardiologin Jolanta Siller-Matula von der Universitätsklinik für Innere Medizin der MedUni Wien hat das Positionspapier mitinitiiert. Ein darin beschriebenes Problem sind beispielsweise Blutverdünner: Die müssen bei einem akuten Herzinfarkt schnell gegeben werden, damit das Herz zumindest zum Teil wieder durchblutet wird und so wenig wie möglich Gewebe abstirbt. Der Notarzt gibt schon im Krankenwagen die erste Dosis. 

Und dann, in der Klinik, in Akutsituation, folgt oft die zweite. "Für einen Mann mit 80 Kilo ist das richtig, aber nicht für eine zierliche Person, die nur 50 bis 60 Kilo wiegt", sagt Siller-Matula. Und das seien eben meistens Frauen, nicht Männer. Die Folge der potenziellen Überdosierung: Frauen leiden nach Herzinfarkten häufiger an Komplikationen durch Blutungen.  

In der Klinik geht es unter Zeitdruck weiter: Über die Arteria radialis am Handgelenk führen Ärztinnen einen Katheter ein, einen Schlauch, durch den Arm, bis in die Herzkranzgefäße, um sie wieder zu öffnen. Klappt das nicht sofort, weil die Arterie zu dünn ist, weichen Ärzte manchmal vorschnell auf die Leistengefäße aus, wo der Katheter leichter eingeführt werden kann. Auch das passiert bei Frauen tendenziell häufiger, sagt Siller-Matula, weil sie kleinere Armgefäße haben. Aber ein Katheter über den Leistenzugang erhöht das Risiko für gefährliche Blutungen, besonders wenn auch noch die Blutverdünner überdosiert sind. Frauen sind davon eher betroffen. Für solche Probleme will das Positionspapier sensibilisieren.

Der Anteil an Probandinnen lag in Studien meist nur bei 20 bis 25 Prozent

Im Gespräch mit anderen Kardiologinnen und Kardiologen wird aber auch klar: Die Gründe der höheren Sterblichkeit von Frauen in Kliniken sind vielfältig, niemand möchte die lange Zeit männerdominierte Kardiologie anklagen. Kein Arzt und keine Ärztin behandle eine Frau mit Herzinfarkt bewusst oder absichtlich schlechter als einen Mann, sagt eine Ansprechpartnerin. Aber es scheint eine historische Altlast zu geben, von der sich die Medizin bis heute nicht befreit hat.

Die kommt unter anderem daher, dass Frauen lange Zeit in vielen klinischen Studien unterrepräsentiert waren. Der Hormonhaushalt von Frauen schwankt stärker, nicht nur monatlich. Sondern auch während des Lebens, vor und nach der Menopause – die Wirkung von Medikamenten müsste bei Frauen also in jungen Jahren und im Alter getrennt untersucht werden. Stattdessen sind oft überwiegend Männer für klinische Studien rekrutiert worden. Der Bericht der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie hält fest: "Die verschiedenen hormonellen Phasen der Frau sind nur vereinzelt untersucht und erschweren den individuellen und optimalen pharmakologischen Einsatz."  

Etwas plump könnte man sagen: Weil Frauen mehr Care-Arbeit als Männer machen, haben sie in der Medizin einen Nachteil. Sie haben schlicht weniger Zeit für klinische Studien, weil sie sich mehr um Familie, Kinder oder Angehörige kümmern, vermutet eine Kardiologin im Gespräch. Studien paritätisch zu besetzen, das dauert deshalb länger und kostet mehr Geld. Es braucht also den Willen und das Problembewusstsein – was in einer langen Zeit von Männern dominierten Kardiologie kaum vorhanden gewesen sein dürfte. 

Der Anteil an Probandinnen lag in Studien deswegen meist nur bei 20 bis 25 Prozent. Oft war das zu wenig, statistisch nicht aussagekräftig genug, um zu wissen, wie die Mittel oder Therapien speziell bei Frauen wirken. 

Industrie hat keinen Anreiz

So kam es, dass die Zulassungsdaten zu Dosierungen, Wirkungen und Nebenwirkungen von vielen Medikamenten oder Therapien hauptsächlich an Männerkörpern gesammelt wurden. Spezielle Studien für Frauen finden im Nachhinein kaum mehr statt. Die Industrie habe keinen Anreiz dafür, sie dürfe die Mittel ohnehin verkaufen, sagt Siller-Matula.

Das hat bis heute Auswirkungen. "In Leitlinien wird nur empfohlen, was einen starken Evidenzgrad hat. Und der fehlt spezifisch für Frauen oft", sagt Siller-Matula. Eben weil Frauen in Studien so lange unterrepräsentiert waren. Also werden Frauen in klinischen Leitlinien bis heute oft wie kleinere oder leichtere Männer behandelt, für die Dosierungen allenfalls auf das niedrigere Gewicht angepasst werden.

Treiben Forschergruppen doch mal die Gelder für Studien mit Frauen auf, zeigen sich oft erstaunliche Resultate: So galt bis ins Jahr 2005, dass Aspirin Herzinfarkten vorbeugt, auch bei Frauen, weil man Studienresultate einfach von Männern auf Frauen übertragen hatte. Eine reine Studie an Frauen ergab dann: Aspirin wirkt bei Frauen nicht vorbeugend gegen einen ersten Herzinfarkt, es könnte das Risiko bei Raucherinnen sogar erhöhen.

Doch trotz der zahlreichen Probleme: Es bessert sich etwas. In neuen, überarbeiteten Richtlinien tauchen allmählich immer mehr geschlechterspezifische Empfehlungen auf, sagt eine Kardiologin – und bei neuen klinischen Studien achtet man heute eher darauf, auch genug Frauen mit einzubeziehen. 

Auch beim Deutschen Herzbericht könnte sich künftig etwas ändern – und die Sterberaten von Frauen und Männern in Krankenhäusern zumindest diskutiert werden, statt sie einfach wegzulassen. Nach einem längeren Austausch mit der ZEIT schreibt ein Sprecher der Deutschen Herzstiftung: "Die Redaktion des Deutschen Herzberichts ist sich dieser Limitation bewusst und bemüht sich aktiv darum, diese zu beheben."