Eine neue Gentherapie kann erstmals die Huntington-Krankheit bremsen
Unheilbar voranschreitend und stets tödlich: Die Huntington-Krankheit ist eines der am meisten gefürchteten Nervenleiden. Innerhalb von 20 Jahren nach der Diagnose sterben die Betroffenen, körperlich verfallen und in geistiger Umnachtung. Bislang können Mediziner nur die Symptome lindern, am Verlauf des Leidens lässt sich nichts ändern. Das könnte nun tatsächlich anders werden.
Am Mittwoch verkündete das niederländische Start-up UniQure in Amsterdam neue Ergebnisse seiner Studie an Huntington-Patienten in einem frühen Stadium der Erkrankung. UniQures Gentherapie namens ATM-130 hat in der höchsten Dosis nach drei Jahren Beobachtung den Verlauf des degenerativen Leidens um 75 Prozent verzögert. Und im Nervenwasser der Patienten sank die Menge eines wichtigen Biomarkers für das Zellsterben im Gehirn sogar unter den Wert vor der Behandlung.
Erste Befunde hatten diesen Erfolg im vergangenen Jahr bereits angedeutet. Die neuen Ergebnisse haben die Erwartungen aber klar übertroffen, urteilen Fachleute und Analysten. "Dieser Durchbruch in der Gentherapie ist ein historischer Fortschritt in der neurodegenerativen Medizin", sagt etwa die australische Neurowissenschaftlerin Nela Durisic vom Queensland Brain Institute. Als Nächstes stünde ein kühner Schritt an – die Behandlung von jungen Menschen, bei denen die Krankheit noch nicht ausgebrochen sei.
Vorerst allerdings muss die Untersuchung noch in einem wissenschaftlichen Fachjournal veröffentlicht und dafür von anderen Forschenden begutachtet werden. Und dann müssen sich die erstaunlichen Ergebnisse noch erhärten – denn bisher hatten nur 12 Probanden die höchste Dosis von der Therapie erhalten. Das sind wenige, aber: Einen so imposanten Effekt in einer kleinen Patientenschar zu sehen, sei "unglaublich vielversprechend", sagt die Huntington-Expertin und klinische Neuropsychologin Sophie Andrews vom australischen Sunshine Coast Thompson Institute.
Eine Heilung, das ist wichtig, verspricht diese Behandlung nicht. Aber wenn sich die Wirkung in einer größeren Studie bestätigte, wäre die Therapie "ein wesentlicher Durchbruch bei der Suche nach einer Behandlung für dieses zerstörerische Leiden".
Wesensveränderungen und kognitive Verluste
Huntington, benannt nach dem US-amerikanischen Arzt George Huntington, der das Leiden als Erster beschrieben hatte, ist eine erbliche Erkrankung. Die Symptome beginnen meist im mittleren Lebensalter, es kann aber auch schon Jugendliche treffen. Oft entwickeln die Patienten starke Wesensveränderungen, werden sehr ängstlich, aggressiv oder auch depressiv. Hinzu kommen Bewegungsstörungen und zunehmende kognitive Verluste.
Ausgelöst wird die Huntington-Krankheit durch eine ungewöhnliche Genveränderung in dem Huntingtin-Gen. Am Anfang dieser Erbanlage gibt es bei allen Menschen eine Stelle, in der sich die drei DNA-Bausteine CAG immer wiederholen. Solche Wiederholungen, im Fachjargon "tandem repeats", sind aber etwas instabil, sie können sich bei der Zellteilung verlängern. Bei gesunden Menschen gibt es nicht mehr als 36 dieser CAG-Wiederholungen. Wird diese Zahl aber überschritten, droht Huntington. Der genaue Mechanismus der Krankheit ist noch nicht eindeutig geklärt. Aber vermutlich ist die von dem mutierten Gen abgeschriebene mRNA und auch das darüber gebildete veränderte Eiweiß für Nervenzellen auf Dauer giftig.
Der Genfehler wirkt dominant – das Leiden bricht also bereits aus, wenn er nur von einem Elternteil vererbt wurde. Statistisch vererbt sich die Genveränderung auf jedes zweite Kind eines Patienten.
Bislang blieben betroffenen Menschen kaum Möglichkeiten, das zu verhindern – allenfalls, wenn ein Paar von vornherein eine künstliche Befruchtung und eine Präimplantationsdiagnose (PID) vornehmen ließ.* Dabei werden die im Labor gezeugten Embryos auf die Huntington-Mutation getestet und nur die nicht betroffenen in den Mutterleib übertragen. Die Untersuchung ist in diesem Fall auch in Deutschland möglich, weil Huntington auch vor dem 18. Lebensjahr ausbrechen kann. Bei spät manifestierenden Krankheiten, also nach dem 18. Lebensjahr ist die PID hierzulande in der Regel nicht zulässig.
Bis zu 18 Stunden dauert der Eingriff
Nun aber bekommen Betroffene womöglich eine neue Option – für sich selbst und für ihre Kinder. Die neuartige Behandlung muss nur einmal durchgeführt werden, sie erfordert allerdings eine bis zu 18-stündige Präzisionsoperation am Gehirn. UniQures Wirkstoff ist nur formal eine Gentherapie: Dabei wird ein harmloses modifiziertes Schnupfenvirus, das ein künstliches Gen in sich trägt, in die Basalganglien tief im Hirn gespritzt. Das Virus dient als Bote: Es infiziert erst dort die Nervenzellen und soll sich dann im ganzen Hirn verbreiten. Die Neurone lesen von dem transportierten Gen eine spezielle RNA (Ribonukleinsäure) ab, die sich dann an die vom Huntingtin-Gen abgelesene mRNA haftet. Dadurch kann die mRNA nur schlecht von den Eiweißfabriken der Zellen genutzt werden, um das schädliche Huntington-Protein zu bilden. Und die mRNA selbst wird auch von den Zellen abgebaut. Es entsteht also von der mutierten mRNA und dem Protein weniger. Beide stehen im Verdacht, das Sterben der Hirnzellen auszulösen.
UniQure will nun im ersten Quartal 2026 eine beschleunigte, aber auch bedingte Zulassung bei der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA beantragen. Die Firma müsste dann kontinuierlich weitere Ergebnisse nachliefern. Wenn für eine schwere Krankheit keine Behandlung existiert, ist dieses Vorgehen in den USA und auch in der EU möglich, obwohl die bisherige Studie formal erst die Sicherheit und die Dosis geprüft hatte.
Wie teuer UniQures Therapie einmal werden wird, ist offen. "Mit den bislang vorhandenen Daten könnte es eine Chance für eine vorzeitige, bedingte Zulassung in den USA geben", sagt der Neurologe Carsten Saft vom Bochumer Universitätsklinikum St. Josef- und St. Elisabeth-Hospital und dem Huntington-Center NRW in Bochum. "Wenn sich diese Ergebnisse bestätigen, würden wir in einer neuen Welt leben."
Weitere Entwicklungen sorgen derzeit für Begeisterung in der Huntington-Szene: Eine ganze Reihe von Pharmaunternehmen wie Skyhawk, Alnylam oder Wave hat inzwischen vielversprechende Wirkstoffe entwickelt, die bereits in Studien getestet werden. Auch sie zielen auf die von dem mutierten Gen abgeschriebene mRNA. Womöglich kommen also noch weitere Therapien gegen die Nervenkrankheit in das Arsenal der Neurologen. Vorerst aber liegt UniQure vorn. Bis zum Donnerstagmittag schnellte die Aktie des Unternehmens um 257 Prozent in die Höhe. "Heute", sagt der Londoner Neurologe Ed Wild, der an UniQures Studie beteiligt ist, auf HD-Buzz, können wir die Huntington-Krankheit in die Rubrik 'behandelbar' aufnehmen."
* Transparenzhinweis: In einer früheren Version des Textes stand, dass werdende Eltern eine Schwangerschaft abbrechen können, wenn ein Gentest die Huntington-Mutation bei dem Fötus nachgewiesen hat. Das ist aber in Deutschland nicht mehr möglich. Wir haben diese Stelle daher korrigiert.