Wer darf weiterleben? Das entscheiden die Ärzte
Es ist ein Gesetz, mit dem niemand richtig zufrieden zu sein schien. Weder die betroffenen Patientinnen und Patienten noch die Ärzteschaft: Das Bundesverfassungsgericht hat die sogenannten Triage-Regelungen des Infektionsschutzgesetzes für nichtig erklärt. Es ist ein Gesetz, das regeln sollte, wie Ärzte über Leben und Tod entscheiden, wenn sie während einer Pandemie nicht mehr alle schwerkranken Menschen behandeln können. Wer kommt zuerst dran? Triage nennt sich dieser Vorgang.
Während der Hochphase der Pandemie waren in Deutschland fast alle Intensivbetten belegt. Aus einigen Regionen mussten Patientinnen und Patienten mit Hubschraubern und Bundeswehrmaschinen in andere Bundesländer verlegt werden. Auch wenn am Ende kein solcher Fall dokumentiert ist: Ärzte standen kurz davor, entscheiden zu müssen, ob sie schwer an Corona erkrankte Menschen trotz Überlebenschance nicht mehr behandeln und eventuell dem Tod überlassen müssen, einfach, weil es keine freien Beatmungsgeräte mehr gibt.
Nur, wen behandelt man in einer solchen Situation, wen nicht? Die ältere, vorerkrankte Person, die womöglich eine schlechtere Prognose hat, sollte sie nicht mehr beatmet werden, zugunsten von jemand jüngerem oder fitterem? Wer hat klinisch die höheren Erfolgsaussichten?
Weil es diese Situation in der Bundesrepublik Deutschland bisher nicht gab, gab es bis zur Pandemie auch kein Gesetz, das sie geregelt hätte. Deswegen verfassten medizinische Fachgesellschaften zu Beginn der Coronakrise eine Leitlinie, die aber nur empfehlenden Charakter hatte – und Behinderte nicht vor Diskriminierung schützte, sagen Betroffene.
Sie fürchteten damals, benachteiligt zu werden, klagten vor dem Bundesverfassungsgericht – und bekamen 2021 recht: Das Gericht erkannte an, dass es eine unbewusste Stereotypisierung von Menschen mit Behinderung gebe und diese bei medizinischen Entscheidungen womöglich benachteiligt würden. Sprich: während einer Triage eher nicht mehr behandelt würden, obwohl es dafür keinen medizinischen Grund gibt. Dass Behinderte medizinisch eher fachlich falsch beurteilt werden, das zeigen Studien. Das Bundesverfassungsgericht forderte deshalb ein zeitnahes Gesetz, das der Bundestag im November 2022 beschloss.
"Das lässt einen etwas ratlos zurück"
Doch genau dieses Gesetz kassiert das Gericht nun wieder ein. "Das lässt einen etwas ratlos zurück", sagt der Medizinethiker Georg Marckmann vom Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er hat die Triage-Leitlinie zu Beginn der Pandemie mit verfasst. Das jetzige Urteil argumentiere ausschließlich formal juristisch, sagt er – die großen ethischen Fragen dahinter hat das Bundesverfassungsgericht nicht inhaltlich geprüft.
Stattdessen stellt es fest, dass der Bund nicht zuständig ist, denn Gesundheit ist Ländersache. Eine Ausnahme davon gilt, wenn der Bund eine Infektionskrankheit wie Corona eindämmen muss, etwa durch Prävention wie eine Maskenpflicht oder medizinische Maßnahmen wie Impfungen. Die Frage aber, wer noch behandelt wird, wenn die Betten knapp werden, habe damit nichts zu tun, sagt das Gericht.
Außerdem sah es durch die nun gekippte Regelung die Berufsfreiheit von Ärzten verletzt. Den Punkt kann Jörg Fierlings erklären, er ist Chefarzt einer Notaufnahme in Bremerhaven und einer der 14 Not- und Intensivmediziner, die mithilfe des Ärzteverbandes Marburger Bund erfolgreich gegen die Triage-Regelung geklagt haben. Unabhängig davon hatten auch vier Intensivärzte eine eigene Klage eingereicht, die das Bundesverfassungsgericht mit der von Fierlings zusammengefasst hat.*
Fierlings sagt, das Gesetz sei vor allem in einer Extremsituation für Ärzte nicht umsetzbar gewesen. Es hat unter anderem vorgeschrieben, dass im Falle einer Triage zwei Ärzte einvernehmlich entscheiden müssen, wer die noch verbleibenden medizinischen Ressourcen erhält und wer nicht. Sind sie sich uneinig, muss ein weiterer Arzt oder eine weitere Ärztin hinzugezogen werden, die aber die Patienten, um die es geht, nicht behandeln darf. Und sollte jemand mit Behinderung oder Zusatzerkrankungen betroffen sein, ist noch eine vierte Person zu konsultieren.
Gerade im Anwendungsfall – also während einer Pandemie und wenn das Gesundheitssystem ohnehin kurz vorm Zusammenbruch steht und die Ärzte völlig überlastet sind – sei das Gesetz völlig untauglich, sagt Fierlings. Außerdem sei es unlogisch: Es hätte nur gegolten, wenn Krankenhäuser aufgrund von Infektionskrankheiten überlastet sind. Sollten Ärzte aufgrund einer Katastrophe oder eines Terroranschlags triagieren müssen, wären sie nicht an das Gesetz gebunden gewesen. Das ergebe wenig Sinn, sagt Fierlings.
Ohnehin finden unabhängig vom Gesetz in bestimmten Situationen auch heute schon Triagen statt: Jeder Notarzt, der als Erster an einem Unfallort ankommt, muss mitunter entscheiden, wen von mehreren Schwerverletzten er zuerst behandelt – für die anderen könnte weitere Hilfe zu spät kommen. "Für mich als Arzt ist das die schlimmste Situation, in die ich kommen kann", sagt Fierlings. Er breche deshalb trotz des juristischen Sieges nicht in Jubel aus: "Wir müssen dem Urteil auch gerecht werden, das nehmen wir mit Demut entgegen", sagt er.
Auch die Betroffenen freuen sich über das Urteil
Ein wenig überraschend mag erscheinen, dass auch die Betroffenen froh sind, dass das Bundesverfassungsgericht das Gesetz gekippt hat. Wenngleich aus anderen Gründen als Fierlings. Nancy Poser, Richterin in Trier, ist wegen einer spinalen Muskelatrophie auf einen Rollstuhl angewiesen. Sie hat jenes Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2021 mit erwirkt, aufgrund dessen das Infektionsschutzgesetz geändert wurde. "Das Gesetz war Murks, wir sind froh, dass es einkassiert worden ist", sagt Poser.
Ihre Kritik: Im Gesetz war verankert, dass Ärzte aufgrund der "kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit" entscheiden sollen, wer medizinische Ressourcen bekommt. Auch wenn es explizit heißt, dass "eine Behinderung, das Alter, die verbleibende mittel- oder langfristige Lebenserwartung, der Grad der Gebrechlichkeit und die Lebensqualität" bei dieser Abwägung keine Rolle spielen dürfen – für Poser eröffnet das Kriterium der "kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit" genau jenen unterbewussten Stereotypen Tür und Tor, vor denen Behinderte geschützt werden sollten.
Schließlich gehe es darum, die Überlebenschancen von Menschen mit unterschiedlichen Schweregraden einer Infektionskrankheit zu beurteilen. "Wie wollen denn Ärzte unterscheiden, ob jemand nun 30 oder 50 Prozent Überlebenswahrscheinlichkeit hat?", fragt Poser. Eben in solchen Graubereichen könnten unterbewusste Vorurteile Menschen mit Behinderung benachteiligen.
Die Regelung zur Triage ist mit dem Urteil nun wieder völlig offen
Wie geht es nun weiter? Derzeit kommt das Triage-Gesetz ohnehin nicht zur Anwendung. Das wäre nur angesichts einer totalen Überlastung des medizinischen Systems im Verlauf einer erneuten Pandemie der Fall. Es gibt also Zeit für eine Debatte.
Der Marburger Bund schlägt vor, den Schutz von Menschen mit Behinderung im Antidiskriminierungsgesetz des Bundes zu verankern – und damit Triage-Entscheidungen weitestgehend den Ärzten zu überlassen. Er sieht durch die Entscheidung die Berufsfreiheit der Ärzteschaft massiv gestärkt. "Sie zeigt auch, dass das Bundesverfassungsgericht den ärztlichen Beruf als eigenverantwortliche Profession versteht, deren Freiheit und Ethik eine Grenze für staatliche Regulierung bilden", teilte die Vorsitzende Susanne Johna mit.
Der Richterin Nancy Poser zufolge wäre es gerecht, diejenigen zu behandeln, die eine medizinische Ressource als Erste in Anspruch nehmen. Und Ethikprofessor Marckmann überlegt, ob man nicht das Grundgesetz ändern müsse. Dort ist bereits verankert, dass der Bund die Organverteilung in einem eigenen Gesetz regeln darf. Gleiches könnte man auch für Triage-Entscheidungen vorsehen.
Damit könnte sich das Bundesverfassungsgericht auch nicht mehr auf das Formaljuristische zurückziehen. "Zu den großen ethischen Fragen schweigt sich das Gericht in dem Urteil nämlich aus", sagt Marckmann. Zum Beispiel die Ex-post-Triage: Ist es erlaubt, bei zu knappen Ressourcen Menschen eine Behandlung zu entziehen, wenn sie kaum mehr eine Überlebenschance haben – und mit den Ressourcen andere zu retten? Das schließt das Gesetz derzeit aus. Marckmann hält das für falsch.
Die Regelung zur Triage ist mit dem Urteil nun wieder völlig offen. Und die Debatte darum, was ethisch geboten wäre, kann von vorn beginnen.
*Anmerkung: An dieser Stelle haben wir den Text nach Veröffentlichung ergänzt.