"Darüber wird erst gesprochen, wenn andere verletzt werden"
DIE ZEIT: Frau Schouler-Ocak, wie viele geflüchtete Menschen bekommen hierzulande psychotherapeutische Hilfe?
Meryam Schouler-Ocak: Jeder dritte Geflüchtete leidet an posttraumatischen Belastungsstörungen oder Depressionen. Aber nur vier Prozent haben ein Jahr nach der Ankunft Zugang zu einer minimalen Psychotherapie, nach sechs Jahren sind es etwa sieben Prozent. Das hat eine Untersuchung aus dem Jahr 2024 ergeben. Eine andere Studie zeigte, dass von den Schwerstkranken nur elf Prozent in psychiatrischer Behandlung sind. Die Lage ist katastrophal.
ZEIT: Was sind die größten Hürden?
Schouler-Ocak: In den ersten drei Jahren nach der Ankunft haben geflüchtete Menschen in der Regel keine Krankenkassenkarte, sie können nur im Notfall zum Arzt oder Therapeuten gehen. Erst danach können sie eine Psychotherapie so wie einheimische Patienten beantragen. Für die Betroffenen ist das alles schwer zu verstehen: Welche Behörde ist zuständig? Welches Formular fülle ich aus? Dazu kommt die Sprachbarriere.
ZEIT: Können Dolmetscher nicht helfen?
Schouler-Ocak: Dolmetscher, die für die Psychotherapie geeignet sind, muss man erst einmal finden. Es gibt sie auch gar nicht für alle Sprachen, und nicht jeder Therapeut weiß, wie man mit ihnen zusammenarbeitet. Zudem gibt es keine Garantie, dass die Kosten von den Krankenkassen übernommen werden. Auch kulturelle Unterschiede können die Verständigung erschweren. Außerdem spielt Diskriminierung eine Rolle.
ZEIT: Wie meinen Sie das?
Schouler-Ocak: Zum Beispiel rufen mich manchmal Kollegen an und sagen: "Sie sind die Expertin. Ich habe einen Patienten aus dem Kongo. Ich schicke Ihnen den." Wenn ich nachfrage, warum die Kollegen das tun wollen, kann herauskommen: Wenn ein dunkelhäutiger Mensch im Wartebereich sitzt, könnten andere Patienten weggehen.
ZEIT: Und wo werden Geflüchtete mit psychischen Problemen dann in den ersten drei Jahren versorgt?
Schouler-Ocak: Teilweise gibt es in den Flüchtlingsunterkünften Unterstützung, aber die ist minimal. Dann gibt es die psychosozialen Zentren, die niedrigschwellig Psychotherapie, Beratung und Sozialarbeit für geflüchtete Menschen anbieten. Die haben aber nur Kapazitäten für etwa drei Prozent der Menschen mit Traumafolgestörungen. Da wird mir ganz schwummerig. Außerdem haben diese Zentren im Moment wegen Budgetkürzungen stark zu kämpfen.