Lebensmittelpolitik? Bitte künftig ohne Lebensmittelkonzerne

In unseren Supermarktregalen stapeln sich ungesunde Lebensmittel: bergeweise krebserregende Wurstwaren, überfettete Chips, übersalzene Fertiggerichte, ungesunde Frühstückscerealien. Joghurts und Limonaden, mit denen man seinen Tagesbedarf an Zucker nach ein paar Bissen oder Schlucken überschreitet. Alles bedruckt mit irreführenden Bildern, die Gesundheit und Natürlichkeit suggerieren. Viele dieser Produkte sind hoch verarbeitet und sehr wahrscheinlich sehr ungesund. Zucker- und Fettgehalt oder Zusatzstoffe stehen zwar im Kleingedruckten. Aber wie hoch verarbeitet sie sind und wie ungesund genau, das lässt sich anhand von Zutatenliste oder Nährwerttabelle kaum erkennen.

Eine Gruppe von 43 Lebensmittelexpertinnen und -experten aus der ganzen Welt will jetzt gegen die Dominanz dieser Lebensmittel vorgehen. Mithilfe einer am Mittwoch veröffentlichten Artikelserie in einem der wichtigsten medizinischen Fachjournale der Welt, The Lancet aus Großbritannien: "Experten warnen, dass der weltweite Anstieg hoch verarbeiteter Lebensmittel eine große Gefahr für die öffentliche Gesundheit darstellt", so haben sie ihre Pressemitteilung überschrieben.

Was im Lancet steht, wird gelesen, diskutiert, ernst genommen, entfaltet politisches Gewicht. Allein die Tatsache, dass die Redaktion des Lancet die Artikel der Gruppe um den Brasilianer Carlos Monteiro angenommen hat, ist ein Statement. Der Professor für Ernährung und öffentliche Gesundheit an der Universität von São Paulo hat die Nova-Klassifikation entwickelt, mit deren Hilfe der Verarbeitungsgrad von Lebensmitteln eingeteilt wird.

Der Tenor der Artikelserie ist unmissverständlich: Hoch verarbeitete Lebensmittel ersetzen weltweit frische Lebensmittel, und ihr Konsum steigt, was die Ernährung verschlechtert. Folgt man der Logik der Autorinnen und Autoren, kostet das Menschenleben: Wer dauerhaft viel Hochverarbeitetes isst, wird nicht nur eher übergewichtig, weil die Energiedichte dieser Lebensmittel zu hoch ist. Man bekommt auf lange Sicht auch eher Typ-2-Diabetes und andere kardiovaskuläre Erkrankungen, steigert sein Krebsrisiko, verringert seine Lebenserwartung, sogar Depressionen werden mit ultra-processed foods, wie sie im Englischen heißen, in Verbindung gebracht.

Und die Politik? Pennt. Nicht überall, aber in vielen Ländern. Das UN-Kinderhilfswerk Unicef schreibt in einem Kommentar, hoch verarbeitete Lebensmittel gehörten zu den dringendsten, aber bislang unzureichend bekämpften Gefahren für die menschliche Gesundheit im 21. Jahrhundert. "Es stellt sich nicht die Frage, ob Maßnahmen erforderlich sind, sondern warum so viele Länder noch keine wirksamen Maßnahmen ergriffen haben", schreibt Unicef.

Kritik an der Klassifikation

Genau diesen Punkt adressieren auch die 43 Autorinnen und Autoren im Lancet. Sie stellen nicht einfach wissenschaftliche Studien vor. Stattdessen greifen sie das Geschäftsmodell der Lebensmittelindustrie frontal und unmittelbar an – explizit Erwähnung finden Nestlé, PepsiCo, Unilever, Coca-Cola, Danone, Fomento Económico Mexicano, Mondelez und Kraft Heinz.

Die Konsumgewohnheiten des Einzelnen zu verändern, reiche allein nicht aus, schreibt die Gruppe: "Es braucht eine koordinierte Politik, um Produktion, Marketing und Konsum von hoch verarbeiteten Lebensmitteln zu verringern." Diese seien Ergebnis einer Lebensmittelwirtschaft, die von Gewinnmaximierung und nicht von Grundsätzen gesunder Ernährung oder Nachhaltigkeit angetrieben werde. Weltweit müsse der politische Einfluss dieser Unternehmen zurückgestutzt werden.

Die Frage ist: Sollten Regierungen, nach dem, was die Lancet-Autoren an Wissenschaft zusammengetragen haben, nun tatsächlich zum großen Angriff auf die Lebensmittelkonzerne blasen?

Die Fachwelt ist nämlich zum Teil sehr kritisch gestimmt gegenüber dem, was da im Lancet erschienen ist. Insbesondere richtet sich die Kritik gegen die von Carlos Monteiro entwickelte Klassifikation, mit der Lebensmittel als hoch verarbeitet identifiziert werden, Nova-Klassifikation heißt sie.

Hoch verarbeitet heißt demnach, dass Lebensmittel wie Mais, Weizen oder Palmfrüchte komplett zerlegt werden in Ballaststoffe, Zucker, Öle und Fette sowie Proteine, dann chemisch modifiziert und im Fabrikmaßstab neu kombiniert werden. Dann kommen Aromen, Farbstoffe, Emulgatoren und andere Zusatzstoffe rein, damit das Produkt gut im Mund liegt oder schön knackt und diesen Wow-Effekt auf der Zunge auslöst. Die Produkte haben kaum noch etwas mit den ursprünglichen Pflanzen zu tun.

Die Lebensmittel enthalten also keine gesundheitsfördernden sekundären Pflanzenstoffe mehr, stattdessen potenziell toxische Verbindungen aus den Verpackungen, Stoffe, die das Hormonsystem beeinflussen, möglicherweise Lebensmittelzusatzstoffe, die erst durch ihre speziellen Kombinationen schädlich werden. So sehen das die Autoren der Lancet-Beiträge. Dass solche Lebensmittel immer weiter Verbreitung finden, ist unstrittig. Die Deutschen essen davon in Europa mit am meisten.

Doch an der Nova-Klassifikation gibt es sehr viel wissenschaftliche Kritik, weil sie einige Seltsamkeiten enthält. Denn ihr zufolge fallen auch Babynahrung, abgepacktes Vollkornbrot oder Lebensmittel, die Vitamin C enthalten, unter das Label "hoch verarbeitet". Die Studienergebnisse zur Schädlichkeit dieser Lebensmittel sind wegen der unklaren Definition wissenschaftlich also einzeln alle leicht angreifbar. Viele der Studien sind zudem Beobachtungsstudien – so ist oft nicht ganz klar, ob die beobachteten Gesundheitsprobleme in den Studiengruppen nicht doch an anderen Faktoren hängen wie mangelnder Bewegung der Teilnehmenden. Oder ob die negativen Effekte eher mit dem hohen Gehalt an Zucker und Fetten in den Lebensmitteln zusammenhängen und nicht mit dem Grad der Verarbeitung.

Aber für viele Wissenschaftler reicht die Evidenz dennoch aus, um davon auszugehen, dass hoch verarbeitete Lebensmittel der Gesundheit schaden. Denn die Wucht entfalten die Studienergebnisse trotzdem, über ihre schiere Menge: Über 100 nationale Ernährungserhebungen, große Kohortenstudien und Interventionsstudien haben die Lancet-Autoren identifiziert, die alle die schädlichen Effekte hoch verarbeiteter Lebensmittel nahelegen, wenn auch nicht endgültig kausal bewiesen.

Wer ungesundes Zeug verkauft, druckt das Label einfach nicht drauf

Noch stärker wiegt aber ein politischer Kritikpunkt. Die Nova-Klassifikation enthält einen explizit nicht ernährungswissenschaftlichen Teil, der geradezu aktivistisch klingt: Hoch verarbeitete Lebensmittel sind weltweit einheitliche Ersatzprodukte, heißt es da, geschaffen, um andere Lebensmittel zu verdrängen. Sie seien dafür konzipiert, schnell konsumierbar zu sein, süchtig zu machen, ließen sich auf Paletten stapeln und seien lange haltbar – sie passten also perfekt in ein globalisiertes Zeitalter und zu den Bedürfnissen von Supermarktketten. Die billige Massenproduktion der Produkte verschaffe der Industrie dahinter enorme Profite und damit die Macht, weiter zu expandieren, gesunde Lebensmittel weiter zu verdrängen und dank ihrer Wirtschaftsmacht staatliche Regulierungen durch Lobbyarbeit zu unterbinden. Vielen Ernährungswissenschaftlern stößt solch idealistische Kapitalismuskritik in einer wissenschaftlichen Klassifizierung übel auf.

Und doch haben die Lancet-Autoren mit ihren Veröffentlichungen den entscheidenden Punkt erwischt: Politische Maßnahmen müssen darauf abzielen, die oligopolartige Struktur der Lebensmittelwirtschaft aufzuweichen. In Deutschland aber ist zuletzt allzu oft das Gegenteil passiert. Seit November 2020 gibt es bei uns den Nutri-Score, eingeteilt in A bis E, grün bis rot. Ein klares Label, das in Supermärkten auf einen Blick zeigen soll, welche Lebensmittel gesund sind. Nur: verpflichtend ist es nicht. Wer ungesundes Zeug verkauft, druckt das Label einfach nicht drauf.

Zweites Beispiel: Die Grünen wollten als Regierungspartei ein Kinder-Lebensmittel-Werbegesetz, es sollte Kinder vor Werbung für Lebensmittel mit zu viel Zucker, Fett oder Salz schützen. Kinder nicht manipulieren, klingt eigentlich selbstverständlich, ist aber gescheitert, weil die FDP dagegen war. Wer dabei genau der Lebensmittelindustrie nach dem Mund geredet hat, ist kaum zu erfahren: Lobbykontakte zur Lebensmittelindustrie müssen Politiker nicht öffentlich machen.

Druck auf die Lebensmittelindustrie auszuüben, ist der deutschen Politik fremd. Andere Länder sind da wesentlich weiter: Dänemark oder Großbritannien haben längst eine Zuckersteuer, in Brasilien prangen Warnzeichen auf Lebensmitteln mit zu viel gesättigten Fettsäuren, Zucker oder Salz.

Die Intention des Lancet ist also richtig und wichtig, und sie trifft auf Deutschland in besonderem Maße zu: Es braucht eine von der Lebensmittelindustrie unabhängige Lebensmittelpolitik.

Dass wissenschaftlich noch Fragen offen sind, spielt dabei eine untergeordnete Rolle: Wie hoch genau ist der Anteil hoch verarbeiteter Lebensmittel am Anstieg chronischer Erkrankungen, und welche Verarbeitungsschritte, welche Zusatzstoffe genau sind das Problem, weil sie zu chronischen Entzündungen im Darm und damit zu Krebs führen? Braucht es eine Art von Warnlabel für hoch verarbeitete Lebensmittel, und wie könnte es definiert sein? Das sind essenzielle Fragen, und wir alle haben ein Recht darauf, dass sie weiter erforscht und beantwortet werden. Ohne einen Vertreter der Lebensmittelindustrie am Tisch, der eigentlich kein Interesse hat, es allzu genau zu wissen.