Da liegt nicht nur ein Mensch auf der Couch

Eigentlich ist Ayşin Yeşilay-Inan für die junge Frau nicht zuständig, es ist nicht ihre Patientin, doch man hat sie angerufen, wieder einmal. Ihre Nummer ist unter Kollegen für diese Fälle bekannt. Wenn es um Patienten mit Migrationsgeschichte geht, bei denen Therapeuten mit den üblichen Methoden nicht weiterkommen, dann rufen sie bei Yeşilay-Inan an.

Yeşilay-Inan arbeitet als Psychologin in der Brandenburgklinik Bernau bei Berlin. Sie selbst hat eine Migrationsgeschichte, als Kind kam sie mit ihrer Familie aus der Türkei nach Deutschland. Auch die Patientin stammt aus der Türkei. Eine junge, gläubige Muslimin, die für ihr Studium in eine WG ziehen möchte, aber ihre Eltern sind dagegen, das gehöre sich nicht. Die Ratschläge der vorherigen Therapeutin liefen darauf hinaus, dass die Patientin mit ihrer gesamten Familie gebrochen hätte. Doch auch, wenn die junge Frau ihren eigenen Weg gehen wollte: Das war für sie undenkbar. Yeşilay-Inan versteht diesen Zwiespalt. Sie überlegen gemeinsam einen Weg, wie die Patientin mit ihrer Familie sprechen und einen Kompromiss finden kann.

Fälle wie dieser zeigen: In einer Therapie kommt es nicht nur auf die Bereitschaft des Patienten oder die Fähigkeiten der Therapeutin an, auch die Kultur kann eine Rolle spielen. Fast jeder Vierte in Deutschland hat eine Einwanderungsgeschichte. Viele haben selbst Migrationserfahrungen gemacht, andere sind hier geboren und aufgewachsen. Sie alle haben Einflüsse aus mehreren Kulturen. Und die können sich auch auf eine Psychotherapie auswirken. 

Doch, so berichten es Fachleute gegenüber , viele Menschen mit Einwanderungsgeschichte sprechen Themen, die ihre Kultur betreffen, in der Therapie nur ungern an. Aus Angst, verurteilt zu werden. Auch brechen sie häufiger eine Therapie frühzeitig ab, wie eine Auswertung von Studien zu jungen Menschen zeigte. Andere schaffen es gar nicht erst, therapeutische Hilfe zu finden: Mal hindern sprachliche Probleme sie daran, mal auch die eigene Kultur, in der psychische Erkrankungen stärker stigmatisiert sind.

Und auch Diskriminierung spielt eine Rolle. Für den Bericht des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors (PDF) schickten Forscher rund 6.800 Terminanfragen an Arzt- und Psychotherapiepraxen, als Absender gaben sie einen deutsch, nigerianisch oder türkisch klingenden Namen an. Bei ansonsten identischer Anfrage erhielten ausländisch klingende Namen wie Deniz Özcan oder Farida Abayomi seltener einen Termin. Bei den Psychotherapiepraxen war der Effekt sogar am größten.

Auch ein Problem: die Angst, unsensibel zu sein

In der Psychotherapie selbst kann es auch passieren, dass ungeschulte Psychotherapeuten ihre Vorurteile in die Sitzung tragen, ihre Patienten gar verurteilen oder aus Unwissenheit über die Kultur verunsichert sind und bestimmte Themen meiden. Besonders für junge Therapeuten ist es oft eine Herausforderung: Wie spricht man die Herkunft an, ohne zu stigmatisieren? Aus Angst, unsensibel zu sein, vermeiden sie oft wichtige Fragen, sagt Yeşilay-Inan. Die kulturelle Prägung der Patienten und somit auch wichtige Umstände blenden sie damit aus.

Einmal sei eine junge Therapeutin in die Supervision gekommen, schildert Yeşilay-Inan, weil sie mit einem kurdischen Patienten nicht weiterkam. In der Supervision beraten erfahrene Psychotherapeuten meist jüngere Kolleginnen und Kollegen bei schweren Fällen. Der Patient habe an Schlafproblemen gelitten und bei jeder tiefergehenden Frage zum Boden geschaut und geschwiegen.

Yeşilay-Inan horchte auf: "Meine erste Frage war, ob der Patient aus der Türkei kommt." Die junge Kollegin wusste nichts darüber, dass Kurden in der Türkei seit Jahrzehnten unterdrückt werden. Tatsächlich wurde bald klar, dass der Patient in der Türkei inhaftiert und gefoltert worden war – ein Hintergrund, der für die Therapie entscheidend war. Doch um solche Erfahrungen ansprechen zu können, braucht es eine sensibilisierte Therapeutin.

Umgekehrt darf der Fokus auf die Kultur auch nicht zu groß ausfallen, das ist Yeşilay-Inan einmal selbst passiert. Eine schwarze Patientin habe an Erschöpfung, körperlichen Schmerzen und Schuldgefühlen gelitten. Yeşilay-Inan fragte nach und hörte hin, doch auch nach mehreren Sitzungen kam sie nicht weiter. Heute weiß sie, dass sie zu sehr auf ihr Stichwort wartete: Diskriminierung. "Ich suchte nach etwas, was gar nicht da war." Die Symptome der Patientin hingen überhaupt nicht mit ihrer Hautfarbe zusammen, sondern kamen, weil sie sich jahrzehntelang für ihre Kinder und Familie verausgabt hatte.

Religiosität oder Zwangsstörung?

Ein weiteres Feld, auf dem es zu Verständnisproblemen zwischen Menschen verschiedener Kulturen kommen kann, ist die Religion. Das sagt Meryam Schoular-Ocak, Professorin für interkulturelle Psychiatrie an der Charité – die einzige Stelle dieser Art in Deutschland. Ein Beispiel seien Zwangsstörungen. Bei einer Zwangsstörung fühlen Menschen sich gezwungen, bestimmte Dinge zu tun – zum Beispiel ständig die Hände zu waschen. Denn sonst, so ist die irrationale Angst, drohen fatale Folgen. "Die Zwangsgedanken und -handlungen betreffen oft Themen, die den Menschen wichtig sind", sagt Schoular-Ocak. So könne sich bei gläubigen Menschen ein Zwang auch in den religiösen Praktiken zeigen. Zum Beispiel in der Sorge, falsch gebetet oder die heilige Waschung nicht richtig umgesetzt zu haben.

Doch wenn eine Zwangsstörung den Glauben betreffe, etwa bei praktizierenden Muslimen, würde sie häufig nicht diagnostiziert, sagt Schoular-Ocak. Ein Beispiel: Bei der heiligen Waschung gibt es klare Regeln, die vorsehen, unter anderem dreimal die Hände, dreimal den Mund und dreimal die Nase zu waschen. Dabei ist genau festgelegt, wie die Körperteile unters Wasser gehalten, gewaschen oder gespült werden sollen. Hat ein Therapeut nun einen Patienten, der bei der Waschung ständig neu ansetzt und alles zigfach wiederholt, könnte er denken, der Patient sei zu sehr an den Glauben gebunden. Tatsächlich könnte es aber eine gewöhnliche Zwangsstörung sein, die sich nur zufällig im religiösen Kontext äußert. Der Therapeut setzt dann mit der Therapie womöglich von Anfang an falsch an.

Noch schwieriger wird es, wenn Patient und Therapeutin nicht dieselbe Sprache sprechen. Sich nicht verständigen zu können, ist für viele einer der Hauptgründe, gar nicht erst in Therapie zu gehen. In einer Therapiestunde können, anders als bei Behördengängen oder gewöhnlichen Arztbesuchen, auch nicht einfach die eigenen Kinder, Verwandte oder Freunde übersetzen – denn das Besprochene könnte sie betreffen, belasten oder die Patienten einschränken.

Dolmetscher könnten helfen, doch die gesetzlichen Krankenkassen sind nicht verpflichtet, deren Kosten zu erstatten. Eine Ausnahme gilt für Geflüchtete in den ersten drei Jahren, die sie in Deutschland verbringen. Dabei ließen sich mithilfe von mehr Dolmetschern Kosten einsparen, sagt Schoular-Ocak, indem man Fehldiagnosen, falsche Behandlungen und Missverständnisse vermeidet. 

Am besten sei es, wenn der Therapeut dieselbe Sprache spricht und deswegen auch den Kontext bestimmter Wörter kennt. Schoular-Ocak nennt ein Beispiel: "Das Wort Sikinti lässt sich mit verschiedenen Begriffen übersetzen." Das türkische Wort kann vieles bedeuten: Langeweile, Enge in der Brust oder auch tiefe Traurigkeit und Leere. Ein Psychotherapeut muss die Worte nicht nur verstehen, sondern sie auch richtig deuten können.