Warum das Gute mehr Aufmerksamkeit braucht

Dass pure Vorstellungskraft krank oder gesund machen kann, mutet an wie Hokuspokus – und ist doch wissenschaftlich bewiesen: Nach einem hoffnungsvollen Gespräch mit dem Arzt geht es einem gleich besser; umgekehrt kann schon die Lektüre eines Beipackzettels dazu führen, die aufgelisteten Nebenwirkungen am eigenen Leib zu verspüren. Vom Placeboeffekt spricht man im ersten Fall, vom Noceboeffekt im zweiten. Es kommt dabei stark auf die Erwartungshaltung des Patienten an: Sobald er sich eine Besserung vorstellt, schüttet das Gehirn Botenstoffe aus, die den Körper darauf vorbereiten – und dadurch just die erwartete Wirkung in Gang setzen.

Diese selbsterfüllende Prophezeiung ist besonders bei Schmerzpatienten nachgewiesen. Erwartungsvolle Gedanken können sogar Schmerzsignale im Rückenmark hemmen oder verstärken, können zur Ausschüttung von körpereigenen Opioiden führen und so die Schmerzverarbeitung stark beeinflussen.

Leider hat es dabei – wie so oft im Leben – das Gute schwerer als das Schlechte. Das ist jedenfalls das Ergebnis einer neuen Studie der Placebo-Forscherin Ulrike Bingel von der Universität Duisburg-Essen. Die im Journal eLife veröffentlichte Arbeit zeigt, dass eine negative Erwartung das Schmerzempfinden stärker und nachhaltiger beeinflusst als ein positiver Glaube.

Dazu untersuchte Bingels Team 104 gesunde Freiwillige, die schmerzhaften Hitzereizen ausgesetzt wurden. Zusätzlich bekamen sie elektrische Impulse, die angeblich ihre Schmerzempfindlichkeit veränderten – in Wahrheit aber wirkungslos waren. Auf diese Weise schürten die Forscher unterschiedliche Erwartungen, die sich mal auf stärkere, mal auf schwächere Schmerzen richteten. Tatsächlich aber erhielten die Probanden stets die gleichen Reize, die sie dann auf einer Skala von 0 bis 100 bewerten sollten.

Ergebnis: Bei einer negativen Erwartung bewerteten die Teilnehmenden ihre Schmerzen im Schnitt um rund elf Punkte höher als unter neutralen Kontrollbedingungen. Die entsprechende positive Erwartung hingegen reduzierte die Schmerzbewertung nur um gut vier Punkte. Der Noceboeffekt erwies sich damit als mehr als doppelt so stark wie der Placeboeffekt, bei ansonsten gleichen Versuchsbedingungen. Selbst eine Woche nach der ersten Scheinbehandlung wiederholte sich dieses Ergebnis fast identisch; das zeigt, wie langanhaltend der Erwartungseffekt ist.

"Menschen neigen offenbar dazu, eher mit dem Schlimmsten zu rechnen – und das spiegelt sich in der Schmerzverarbeitung wider", erklärt Ulrike Bingel das Ungleichgewicht zwischen Placebo- und Nocebowirkung. Vermutlich ist das ein Ergebnis der menschlichen Evolutionsgeschichte: Wer eher mit dem Schlimmsten rechnet, ist vorsichtiger und hat dadurch höhere Überlebenschancen. Wer dagegen mit stark positiven Erwartungen durchs Leben geht, ist zwar tendenziell glücklicher, neigt aber auch zum Leichtsinn, der evolutionär gesehen von Nachteil ist. In der Psychologie ist dieser Effekt als Negativbias oder Negativverzerrung bekannt.

Die neue Studie zum Schmerzempfinden ist nun ein weiterer Beleg dafür, wie verzerrt unser Gehirn die Realität beurteilt: Wir sehen sie nicht neutral, sondern durch eine tendenziell negativ gefärbte Brille.

Für die medizinische Therapie zieht Ulrike Bingel daraus eine wichtige Lehre: Man dürfe sich nicht nur darauf konzentrieren, positive Erwartungen zu fördern ("Das wird schon wieder"). Es sei "mindestens genauso wichtig, unbeabsichtigte negative Erwartungen zu vermeiden".

Was also tun? Zunächst mal zurückhaltend sein mit einer zu gründlichen Lektüre des Beipackzettels: Die kann unbewusst das Erleben der Nebenwirkungen fördern. Und vor allem nicht vergessen, auch an die positive Wirkung des Medikaments zu denken – am besten doppelt so intensiv.