Aber die Wasser sind älter als der Tod

Ein Buch über Flüsse fängt an den Quellen an. Dieses beginnt mit einem denkbar unscheinbaren Wasserlauf ganz in der Nähe von Robert Macfarlanes Zuhause im britischen Cambridge, wo einer der wenigen Kreidebäche der Erde entspringt. Für Macfarlane aber ist der Fußweg dorthin ein Ad fontes im doppelten Sinn: Unweit von hier, in einem namenlosen Buchenhain, hat er auch sein Buch „Karte der Wildnis“ beginnen lassen, das ihn zum prominentesten Vertreter des Nature Writings gemacht hat, einer literarischen Form, die wie ein zuvor lange unterirdisch verlaufender Fluss erst im 21. Jahrhundert ans Licht des Tages getreten ist.

Naturbücher wurden lange vorher geschrieben (Macfarlane selbst hat nicht wenige Klassiker des Genres bekannt gemacht), zum Genre (oder zur Marke) aber wurden sie nicht zuletzt mit ihm und seinen manchmal wie ein Bachlauf flüsternden Meisterwerken. In seinem stillsten und schönsten ist er dem walisischen Dichter Edward Thomas über den uralten Icknield Way gefolgt.

Seitdem hat Macfarlane eine Wende zur Reportage vollzogen. In seinem Bestseller „Unterland“ ist er in die Hohlräume des Planeten gestiegen (den Karst oder die Katakomben unter Paris), diesmal folgt er den alten Wegen des Wassers in eine neue, bedrängte Welt. Unter der Leitfrage „Sind Flüsse Lebewesen?“ reist er ins Quellgebiet des Río Los Cedros, des Flusses der Zedern, im Nebelwald von Ecuador, ins indische Chennai, wo gleich drei große Ströme, darunter der Adyar, in den Golf von Bengalen münden, und ins kanadische Quebec zum wilden Magpie River, den die indigenen Innu Mutehekau Shipu nennen.

Früher oft allein, reist Macfarlane nun häufig in Gesellschaft; in Ecuador etwa ist eine Mykologin dabei, in Kanada ein Geograf, der die Geräusche der Erde aufzeichnet. Beide haben kurz zuvor einen geliebten Menschen verloren, was für die Tiefenströmung des Buchs von Bedeutung ist. „Wer ist älter als der Tod?“, heißt es darin einmal, als Macfarlane schon mit dem Kajak auf dem Magpie treibt. „Ich selbstredend, sagt der Fluss …“ Auf der nach allen Seiten offenen Schriftstellerskala neigt Macfarlane seit jeher mehr noch als dem Erzähler dem Lyriker zu. Die Frage nach dem Leben des Flusses entpuppt sich als die nach dem eigenen Tod.

Ein Gott mit Vormund?

Doch seit es die Naturrechtsbewegung gibt, ist „Sind Flüsse Lebewesen?“ auch eine juristische Frage, erstmals gestellt Anfang der 70er-Jahre in einem amerikanischen Seminar zum Sachenrecht und seitdem von ganz unterschiedlichen Gesetzgebern auf aller Welt immer öfter mit Ja beantwortet, um Natur und Ressourcen zu schützen; auch die Rechte des Río Los Cedros im entlegenen Nebelwald sind mittlerweile in der ecuadorianischen Verfassung verankert.

Wie sinnvoll eine solche Verankerung zumindest im Ergebnis sein könnte, zeigt das Beispiel Chennai, eine uralte Wasserstadt, die verlernt hat, von und mit dem Wasser zu leben, und ihre Flüsse buchstäblich begraben hat. Im Adyar ließ sich 2023 kein gelöster Sauerstoff mehr finden, stattdessen transportierte der Strom große Mengen an Fäkalien und Schwermetallen; 2019 wurde die Stadt der drei Flüsse erstmals per Tankwagen mit Trinkwasser versorgt. Wenn aber die Flüsse sterben, sterben über kurz oder lang auch die Städte an ihren Ufern. Das ist kein romantisches, sondern ein reißendes Problem – auch wenn die eingezwängte Kloake bei Monsun über die begradigten Ufer tritt.

Und doch, trotz allem, hält der Titel des Buchs an seinem mäandernden Fragezeichen fest. Dass Flüsse Lebensraum und Lebensgrundlage sind, steht außer Frage, dass es aber ausgerechnet Gesetzestexte sein sollen, die entscheiden, ob und inwieweit sie selbst lebendig sind, verursacht Macfarlane merklich Unbehagen. Da ist zum Beispiel das praktische Problem, wer mit welcher Berechtigung und welchen Motiven für sie spricht, da ist aber vor allem Macfarlanes Lebensprojekt einer Romantik 2.0, die, anders als die historische Romantik, nicht die eigene Seele, sondern das Nicht-Menschliche in der Natur finden will. Flüsse zu juristischen Personen zu erklären, aber hieße sie einmal mehr in ein menschliches Raster zu pressen – als wäre das Regelwerk der Welt nunmehr wirklich ausschließlich menschengemacht und der Fluss, im Animismus noch ein aus Zeit geformter Gott, ein aus der Zeit Gefallener, der einen Vormund braucht.

Und so gerät Macfarlanes finale Fahrt auf dem Magpie River zum Triumph einer buchstäblich übermenschlichen Gewalt, die sich ihr Recht nicht erbettelt, sondern nimmt, und deren Schönheit und gelegentlichen Schrecken zu ermessen, es weniger das Geschick des Kanuten als das des Künstlers braucht: Allein mit sich und dem Wasser, schreibt Robert Macfarlane eine herrliche Prosa, in der man wie in einem Fluss baden kann, und über der man die Ruhe jenes Reihers lernt, der so reglos im Bett des Kreidebachs vom Anfang steht, „als könnte er allein kraft seiner Geduld das Leben des Wassers zurückholen“.

Robert Macfarlane: „Sind Flüsse Lebewesen?“ Aus dem Englischen von Frank Sievers und Andreas Jandl. Ullstein, 414 Seiten, 29,99 Euro.