Wenn Putin Kulleraugen hat
Es ist schwer, diese KI-animierte Videokonferenz nicht süß zu finden. Putin als ein Präpubertierender mit Kulleraugen im Judoka-Outfit, Kim Jong Un mit Pausbacken und Spielzeugrakete, Elon Musk als süßer Fratz mit Cybertruck und ein juveniler Recep Tayyip Erdoğan mit süß abstehenden Ohren. Alle vereint sitzen sie mit Mini-Versionen Donald Trumps und Emanuel Macrons im Trailer zur neuen Trickserie des russischen Medienmoguls Wladimir Solowjow zusammen und tauschen sich per Videoschalte im Trailer über die Vorteile einer russischen Skype-Alternative aus.
Mit Sandpit (Deutsch: Sandkasten) will Solowjow laut Aussage auf Telegram das Kinderfernsehen nicht nur revolutionieren, sondern im Sinne der russischen Propaganda politisieren.
Viel mehr ist über das Projekt bislang nicht bekannt, dennoch ist sich die Bild-Zeitung sicher: "Putin erzieht russische Kinder zu Nato-Hassern." Das wäre für sich genommen nicht überraschend. Schließlich schließt das Regime, was Ziel und Methoden der Indoktrination anbelangt, nahtlos an die Tradition der Sowjetunion an, gleichgeschaltete Jugendorganisationen und Massenveranstaltungen inklusive. Neu ist allerdings, dass nun auch animierte Niedlichkeit zum propagandistischen Werkzeugkasten gehört. Dabei ist das autoritären Systemen wesensfremd: Einen niedlichen Diktator kann man schwerlich fürchten, und ohne Furcht keine dauerhaft funktionierende Unterdrückung. Eben deshalb sind in China bereits seit Längerem die Winnie-Puuh-Filme verboten. Zu vielen Chinesen war aufgefallen, dass der freundliche Bär dem chinesischen Staatschef Xi Jinping auffallend ähnlich sieht, abzüglich der Freundlichkeit natürlich. In Russland dagegen hat man mit einem kulleräugigen Putin, der wie im Trailer zu Sandpit einen Teddybären und ein Spielzeugkriegsschiff sein Eigen nennt, kein Problem. Oder etwa doch?
Noch wurde die Serie nicht ausgestrahlt, und vielleicht ist die russische Jugend in Wahrheit auch gar nicht das Zielpublikum. Schließlich funktioniert die Niedlichkeit in Sandpit nach dem Kindchenschema des deutschen Zoologen und Verhaltensforschers Konrad Lorenz. Kulleraugen lösen, wie Lorenz in den Vierzigerjahren beschrieb, im (erwachsenen) Betrachter einen emotionalen Beschützerreflex aus. Sie sind das Gegenteil des aggressiven Machogehabes, das Putin sonst so gerne demonstriert, etwa als Oben-ohne-Cowboy in der sibirischen Taiga. Die schwülstige Männlichkeit soll den russischen Präsidenten mächtiger und potenter erscheinen lassen, als er wirklich ist, soll Furcht und Bewunderung auslösen. Die Botschaft von Sandpit ist eine andere: Hier wird Putin unschuldig und harmlos gemacht mit den Mitteln der KI. Kurz: Dieser Putin will geknuddelt werden.
Adressat sind demnach auch, ja vielleicht vor allem die kriegsmüden Teile der westlichen Öffentlichkeit, die, dem einseitig enthemmten Kriegsgeschehen in der Ukraine zum Trotz, nach Belegen dafür suchen, dass von Russland weniger Gefahr ausgeht, als die Sicherheitsexperten behaupten. Offensichtlich weiß man in Moskau genau um die Tier- und Babybilder, mit denen der Westler auf dem Smartphone liebend gerne Realitätsflucht begeht. Doch was ist schon ein Judoka-Putin mit großen Augen gegen ein Kätzchen, das mit einem Wollknäuel spielt.