Warum ein Museum in Cáceres ganz ohne Bilbao-Effekt begeistert
Wir wurden Opfer des Guggenheim-Effekts. Das ist der Effekt, der die spanische Stadt Bilbao wiederbelebte: Der Bau des Guggenheim-Museums des Architekten Frank Gehry vor fast dreißig Jahren hat dazu geführt, dass aus Bilbao im spanischen Baskenland, einem maroden Verlierer des Strukturwandels, wieder etwas Großes wurde. Nur dank des Museums kamen Touristen, und dann siedelten sich Cafés an, Hotels, Galerien – Banken, Start-ups, Glanz.
Das Guggenheim-Museum in Bilbao lockt jährlich mehr als eine Million Menschen an. Und nur weil es sie lockt, lockte es auch uns. Die Geschichte unseres Besuchs ist schnell erzählt: draußen Koons, drinnen Koons – und Hunderte Menschen auf jeder Etage. Uns begrüßt vor dem Haupteingang der berühmte, hausgroße Hund von Jeff Koons („Puppy“, 1992), bunt aus blühenden Blumen. Drinnen Trubel wie im Legoland. Im ersten Raum das monumentale Stahllabyrinth von Richard Serra, das die Kinder sofort als Abenteuerspielplatz begreifen – und das beim langsam schreitenden Erwachsenen, dem sich aus jedem Winkel neue Perspektiven und Raumgefühle eröffnen, die vertraute Einsicht weckt: Die Wahrheit hat viele Facetten.
Wir sehen anschließend einen gigantischen Federball in den Farben eines Spiegeleis – ockergelber Ball, weiße Federn –, ein buntes, begehbares Spiegellabyrinth, stehen in einem Meer aus fetten Schlagzeilen amerikanischer Boulevardzeitungen der 1990er-Jahre, entdecken dann auch die aus Schulbüchern bekannten Porträts von Andy Warhol, bewundern erneut glänzend-bunte Kunstblumen von Jeff Koons („Tulips“, 1995–2004) und sehen wandfüllende Collagen aus Plastikmüll. Dass die Kinder hier und da fragen, was daran Kunst sei („Das kann ich auch“), war erwartbar – und wir antworteten routiniert.
Dennoch bleibt der Eindruck, dass der Guggenheim-Effekt auch ein Guggenheim-Fluch ist: der Eindruck des Reizverlustes durch die zusammenhanglos wirkende Aneinanderreihung großer Künstlernamen, fotografierender Massen und ein schleierhaftes inhaltliches Gesamtkonzept – wodurch moderne Kunst als neurotischer Stressverstärker in Erinnerung bleibt.
Die Kunst bietet Abkühlung
Allerdings änderte sich das alles im Verlauf unserer Weiterreise, an einem anderen Ort: Cáceres. Hier kommt Helga de Alvear ins Spiel – und hier begeisterten sich auch die Kinder für moderne Kunst. Kennen Sie die deutsche Kunstsammlerin Helga de Alvear? Wir begegneten ihrem Lebenswerk im heißen Zentrum Spaniens, in der Extremadura, gelegen an der Grenze zu Portugal und nördlich von Andalusien.
Besucht man deren zentrale Stadt Cáceres – die Altstadt mit ihren römischen und mittelalterlichen Bauten und maurischen Spuren ist Unesco-Welterbe –, gerät man dort mühelos ins Schwitzen. Vierzig Grad Celsius sind normal. Mittags läuft nichts. Alle Läden sind geschlossen. Und wie zufällig standen wir plötzlich am Rand der Altstadt vor dem Eingang des Museo de Arte Contemporáneo Helga de Alvear, aus dem kühle Luft kam.
Zunächst ist es wie die Entdeckung einer Oase. Eine sichtbar glückliche Museumsportierin begrüßt uns: Menschen! Hoffentlich auch Freunde der Kunst? Bemühte Banausen, immerhin. Nichts los hier – und wir werden mit einer ausführlichen Erklärung über den Weg durch die drei vom Parterre den Hang herabreichenden Etagen ausgestattet.
In jedem Ausstellungsraum geht es so weiter: kompetente Mitarbeiter mit Zeit und Kenntnis. Die Architektur bietet blickdichte Räume, aber auch immer wieder interessante Sichtachsen nach draußen – halb verdeckt von schmalen, vertikalen Betonstützen, mit Ausblicken auf Bars und Balkone der hitzeleidenden Neustadt.
Wie im Guggenheim begegnen dem Besucher die großen Namen. Eine rot-golden glänzende, wie herabgestürzte Kronleuchter-Installation von Ai Weiwei füllt den ersten Raum – ein Symbol für das post-traditionelle China, seinen tragischen Verlust an Geschichtlichkeit. Rauminstallationen und Gemälde wechseln sich ab, viele entstanden erst Jahre nach dem Aufstieg Bilbaos zum Kunstmagneten.
Zwischendrin ist die Gegenwartskunst mit dem einen oder anderen Picasso, Klee oder gar Goya gewürzt. Jeder Raum bietet eine Überraschung, die Ausstellung folgt dem Sinnzusammenhang kritischer und humorvoller Gegenwartsreflexion. Eine griechische Skulptur hängt am Bluttropf – wie bloß die schöne Kunst am Leben halten?
Kettensäge als Erfolgstool
Ergreifend ist eine über zwei Etagen reichende Raumarbeit des Schweizers Thomas Hirschhorn. Sie heißt „Power Tools“, ist aus dem Jahr 2006 und erzählt von der technokratischen westlichen Gesellschaft: Die Reclam-Klassiker von Heidegger bis Hölderlin sind in eine Ecke gepfeffert, die Wände übersät mit Nägeln und Werkzeugen. Schaufensterpuppen stehen für erfolgreiche Funktionäre aus Politik, Wirtschaft, Medien. Die Kettensäge ist das individuelle Erfolgstool.
Ich lese: „Es gibt keine Lösungen, es gibt nur Probleme“, „Es ist, wie es ist“, ein durchgestrichenes „Think“. Ich spüre Gesellschaftskritik, die mich trifft, betrifft, erreicht, entlarvt. Auch diesbezüglich ist der Abstand zu den irgendwie aus der Zeit gefallenen dekonstruktivistischen Collagen und dem Pop-Art-Gedöns des Guggenheim bemerkenswert.
Unendlich komisch finden sogar die Kinder die Video-Rauminstallation, in der man an allen vier Wänden im Wechsel in mehrere Hundert Gebisse von Menschen blickt – wie ein Zahnarzt. Zahnreihen in Großaufnahme, jede Karies und jede Parodontitis wird fußballgroß. Dazu schaurige Klänge. Man blickt ins Innerste – und es gruselt. Im Museumsgarten setzt eine pinkfarbene Riesenwurst mit blauem Donut des Wiener Künstlers Franz West schließlich eine groteske Pointe.
Die Architektur des Museumsbaus, verantwortet vom Madrider Büro Mansilla + Tuñón, schafft kein Spektakel, aber eine angenehme Atmosphäre. Das elegante, von schlanken Vertikalen geprägte Bauwerk ist wie ein Alter Ego des gegenüberliegenden Gründerzeitbaus. Die Ausstellung wechselt, der Fundus ist groß. Das Museum beherbergt eine der umfangreichsten privaten Sammlungen zeitgenössischer Kunst Europas, erklärt uns eine Mitarbeiterin – mehr als 3000 Werke.
Die Sammlung beruht teils auch auf Vermögen aus der deutschen Industrie: Helga de Alvear war Miteigentümerin der RKW-Gruppe in Mannheim, die Kunststofffolien herstellt. Ihr Lebensmittelpunkt war – nach einer Sprachreise in den 1950er-Jahren und der Heirat mit dem spanischen Architekten Jaime de Alvear – Madrid. Aus der Ehe gingen drei Kinder, Enkel und Urenkel hervor.
Erst vor vier Jahren war die Eröffnung dieses Baus. Die Sammlung ist eine Gabe der deutschen Sammlerin Helga de Alvear. Immerhin einige Zehntausend Besucher werden im Jahr gezählt – der wüstenheiße Sommer ist nicht die Hauptsaison. Und wer war Helga de Alvear? Die Sammlerin, gestorben in diesem Frühjahr, geboren 1936 als Helga Müller-Schätzel im pfälzischen Kirn als „höhere Tochter“ einer Industriellenfamilie, wird in Nachrufen als eine der großen europäischen Kunstsammlerinnen gewürdigt.
Als Galeristin in Madrid und später als Gründerin der internationalen Kunstmesse Arco Madrid prägte de Alvear, so heißt es, bis zuletzt die zeitgenössische Kunstszene und begann früh mit dem Aufbau der eigenen Sammlung. Noch in den letzten Jahren vor ihrem Tod erwarb sie Dutzende Kunstwerke – von Carlos Bunga, Walid Raad, Isa Genzken oder Candida Höfer.
De Alvear war laut Nachrufen in Spanien als Philanthropin geschätzt, gab sich öffentlich als engagierte Sozialdemokratin und Bewunderin von Angela Merkel zu erkennen. Die Kunst war für sie auch ein Ausgleich ihrer Depressionserkrankung, berichten die Nachrufe. Sie wird mit dem Satz zitiert: „Ich bin süchtig nach Kunst. Ich werde bis zum Schluss weiterkaufen.“ Die Tageszeitung „El País“ nannte de Alvears Museum „eines der bedeutendsten Zentren für zeitgenössische Kunst Europas“.
Auch berichtete „El País“ von der Trauerfeier für die Deutsche in Madrid. Die Zeitung zitierte einen der Gäste, Manuel Borja-Villel, den langjährigen Direktor des Museo Reina Sofía: „Mit Helgas Tod geht ein unwiederholbares Kapitel der spanischen Kunst zu Ende. Sie gehört zu jener Generation autodidaktischer Galeristen, Kuratoren und Kulturmanager, die durch unermüdlichen Einsatz viel erreicht haben.“
Ihre Großzügigkeit sei bemerkenswert gewesen, erinnerte sich Borja-Villel in diesem Gespräch: „Einmal sah sie mich auf der Arco-Messe vor einem Werk stehen, das ich mir nicht leisten konnte – kurz darauf hatte sie es für uns gekauft.“ Die Kunstsammlung mitsamt dem Museumsbau schenkte sie der Stadt Cáceres. Der Eintritt ist frei – ein Guggenheim-Effekt ist angesichts der großen Hitze der Extremadura bis auf Weiteres nicht zu befürchten.