Der neue Kasino-Kapitalismus
Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 34/2025.
In
Manhattan gibt es zurzeit Ärger. Mitten auf der Insel nämlich, am Times Square,
soll ein Kasino entstehen. Manche halten das für eine formidable Idee, zum
Beispiel die Gewerkschaft der Bauarbeiter und der zu den Investoren zählende Musiker Jay-Z. Neue Jobs, zusätzlichen Tourismus und allgemein mehr
Geschäftsmöglichkeiten versprechen sich die Antreiber des Projekts. Andere
Kräfte hingegen, allen voran die umliegenden Broadway-Theater und
Communitygruppen, warnen davor, dass eine Spielbank nicht nur den Verkehr
verstopfen, sondern die Menschenmassen dann auch gleich verschlucken würde. Wer
schaut sich schon das Musical Les Misérables an, so die Befürchtung, wenn gleichzeitig
die elenden Glücksspielautomaten locken?
Man mag nun einwenden, dass der Times Square mit seinen verstörend großen Werbetafeln, den teuren Quatschläden, aufdringlichen Spiderman-Darstellern, dieser pausenlosen Sinnesüberforderung doch sowieso eine einzige Abzockhölle ist. Stimmt auch. Wer Geld und Nerven verlieren will, ist hier auch jetzt schon richtig. Zugleich aber geht es um einen historischen Schritt: Es wäre das erste Kasino in Manhattan überhaupt. Die zuständige Behörde, das New York State Gaming Facility Location Board, muss also überlegen, ob sie einen Präzedenzfall schaffen will. Bis Dezember soll eine Entscheidung fallen.
Allein der Plan für ein Kasino im Herzen der Finanzwelthauptstadt hat etwas Überzeichnetes, wie eine platte Metapher am Ende einer Geschichte, die niemand mehr braucht. Mit Donald Trump sitzt ein ehemaliger Kasinobesitzer im Weißen Haus, der sich von dort selbst, seine Familie und enge Verbündete bereichert. Elon Musk und andere Großunternehmer behandeln die Wirtschaft derweil, als wäre es ihre persönliche Spielwiese. Durch die Kryptoindustrie ist ein zusätzlicher Spekulationsmarkt entstanden, der vor allem Reiche reicher zu machen scheint. Kein Wunder also, dass der etwas verstaubte Begriff "Kasino-Kapitalismus" wieder Konjunktur hat.
Sinnbildlich ist die angestrebte Spielbank in Manhattan aber noch aus einem anderen Grund: Das Zocken um Geld hat sich in den vergangenen Jahren auf eine beispiellose Weise in den Alltag der amerikanischen Bevölkerung integriert.
Nimmt man die verschiedenen Formen des Gamblings zusammen, vom klassischen Kasinobesuch über das Bespielen diverser Online-Wettbörsen und Lotterien bis hin zu neuen Zugängen zum Aktien- und Kryptowährungshandel, befinden sich die USA in einem historisch einzigartigen Rausch. Nie zuvor in der Geschichte wurde mehr um Geld gespielt, nie zuvor in größerem Ausmaß mit Geld spekuliert. Die exklusive Identität des Glücksspielers sei quasi hinfällig, schrieb das Magazin The Nation kürzlich, angesichts "einer Welt, in der jeder spielt und alles Glücksspiel ist". Eine etwas übertriebene Darstellung, aber in der Tendenz stimmt die Beobachtung: Gambling hat sich vollständig normalisiert und in diverse Bereiche des Lebens ausgedehnt.
Politik und Wirtschaft wollen es so
Die Gamblifizierung der Gesellschaft ist kein zufälliges Phänomen. US-amerikanische Traditionen laufen hier mit soziopolitischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte und konkreten Entscheidungen aus der jüngsten Zeit zusammen.
Vereinsamung etwa spielt eine Rolle, Menschen verbringen schlichtweg mehr Zeit allein vor ihren Bildschirmen. Die Pandemie hat diesen Trend deutlich verstärkt. Gambling blüht insbesondere in von jungen Männern dominierten Onlinewelten, von einer "Bro-Ökonomie" ist deshalb auch die Rede. Es gibt deutliche Überschneidungen mit der sogenannten Mannosphäre, wie das lose Netzwerk von frauenfeindlichen Blogs, Foren und Podcasts umschrieben wird. Barstool Sports, eine der beliebtesten Websites aus diesem Bereich, und der Wettanbieter DraftKings gaben Anfang 2024 eine mehrjährige Partnerschaft bekannt.
Die Gamblifizierung schließt zudem an die Gamifizierung an, also die zunehmende Integration von Spielelementen in den Alltag, etwa in Form von Fremdsprachenapps, Payback-Punkten und Fitnesstrackern. Darüber hinaus kann man auch die Auswüchse einer insbesondere im Silicon Valley gepflegten Start-up-Ideologie erkennen. Arbeiterinnen und Arbeiter werden in vielen Branchen darauf konditioniert, sich selbst zu vermarkten und als Personal Brands durchzusetzen, ganz nach dem Motto: Jeder ist seines Glückes Schmied. In dieses Mindset passt das Zocken, Wetten und Traden gut hinein.
Dass diese Aktivitäten heute so blühen, hat am Ende aber vor allem mit den veränderten Rahmenbedingungen zu tun. Politik und Wirtschaft wollen es so.
Die bedeutendste Veränderung vollzog sich durch die landesweite Legalisierung von Sportwetten im Jahr 2018. Der Gouverneur von New Jersey, Phil Murphy, hatte zuvor gegen das seit Jahrzehnten geltende Verbot geklagt und schließlich vom Supreme Court Recht bekommen. Seit diesem Urteil ist in rasendem Tempo eine riesige Sportwettenindustrie entstanden. Im vergangenen Jahr wurden in den USA rund 150 Milliarden Dollar auf Sportereignisse gesetzt, der Schwarzmarkt nicht mitgerechnet. In einer Umfrage der National Collegiate Athletic Association gaben 67 Prozent der befragten Studentinnen und Studenten an, sich an Sportwetten zu beteiligen. Mit der American Bettors Voice gibt es mittlerweile sogar eine Art Gewerkschaft für Wettende.