Wo Kunst so aussieht wie aus der Konsole eines Kinderzimmers
Ein bisschen war es wie auf einem Speed-Dating. Oder wie man sich so etwas halt vorstellt. Die Crème der (Kunst-)Filmszene hat sich in St. Moritz unter den schroffen Gipfeln, den Berühmtheiten des Engadins, versammelt. Zum Austausch, zur Unterhaltung, zum Wettbewerb. Wie würde die Fachkonkurrenz urteilen? War man auf der Höhe der technologischen Errungenschaften, war der thematisch zeittypische Ansatz vielversprechend gelöst, ästhetisch und narrativ gelungen?
Der vierten Ausgabe des St. Moritz Festivals war als verbindendes Konzept „Emerging Virtuality“ vorangestellt. Damit unterscheidet sich das Festival (vier Tage, 36 Screenings mit einer Länge von fünf bis neunzig Minuten) von anderen Veranstaltungen dieser Art. Eine Fokussierung, die sehr gut geeignet ist, der Beliebigkeit geschuldete Ermüdungserscheinungen zu unterbinden. Die Wettbewerbskriterien werden geschärft. Aus der vermeintlichen Nische wird eine zugespitzte, hochaktuelle Zustandsbeschreibung des Kunstfilms beziehungsweise seiner im Metaversum funktionierenden Möglichkeiten.
Der Direktor des Festivals, Stefano Rabolli Pansera, gelernter Architekt, unter anderem in leitender Funktion bei der Galerie Hauser & Wirth tätig und nun in Bangkok zuhause, entwickelte als Gründer zusammen mit Martin Hatebur, Jurist und Justiziar der Kunsthalle Basel, ein Event, das zunächst einmal die, gemessen am winterlichen Bohei, sommerliche Trägheit in St. Moritz beleben soll. Die Qualität der Festivalbeiträge ist außerordentlich, der Besucherstrom lässt, wenn auch ansteigend, noch auf sich warten. Die Sponsoren sind geduldig.
Rabolli Pansera möchte alljährlich eine Plattform schaffen, die einer Gedankenwelt jenseits ausgetretener Pfade und in direkter Kontrolle und Nutzbarmachung virtueller Methoden Raum und Ausstrahlung verleiht. Das gelingt vor allem, weil die Auswahl der Kuratoren für ein ungewöhnlich disparates Programm sorgt. Ein global besetztes Podium hat sich mit Erfahrung und philosophischem Furor an die Arbeit gemacht. Gegenwelten mit Gespenstern und Avataren, hyperdekorative Digitalfantasien und doku-fiktionale Bestandsaufnahmen wechseln sich ab.
Die Verschmelzung von digitalen Medien, KI, Partizipation und globaler Perspektive führt zu einer aktuellen Wahrnehmung, die erwartbare Aussichten in den Blick nimmt. Keiner der Filme ist nur eine Sekunde lang larmoyant oder gar belehrend. Nüchtern und einfallsreich werden beispielsweise die unvermeidlichen Folgen einer alles zerstörenden Gewinnung der Rohstoffe zur Perfektion einer digitalen Zukunft in einem suggestiven Kaleidoskop der Verrohung antizipiert.
Knit’s Island, ein Film von Guilhem Causse, Ekiem Barbier und Quentin L’helgoualc’h, baut zum Beispiel ein Szenario um ein Rechercheteam auf, das sich als Avatargrüppchen befristet in die simulierte Überlebensfiktion einer Gemeinschaft begibt. Der mal herzzerreißende, mal bestürzende und abscheuliche, oft mit lakonischem Humor zusammengefasste Befund hinterfragt die stets felsenfest behauptete Unveränderlichkeit von Zeit, Identität und Ort – und legt sie zu den Akten.
Die in Berlin lebende Amy Siegel beschreibt die historischen Konsequenzen des menschlichen Forscherdrangs, der freilich immer einherging mit einer geradezu imperialen Ermächtigung zur Zerstörung. Tiere werden gejagt und getötet, nicht als essenzielles Nahrungsmittel, sondern weil man sich so erproben und beweisen kann. Schmetterlinge werden fein säuberlich aufgespießt, weil sie wunderhübsche Belege archivalischen Pflichtbewusstseins sind. Was aus seinem Habitat gerissen wurde – der Löwe, der Steinbock – existiert am Ende kunstvoll aufbereitet vom Tierpräparator weiter, als Staffage vor einer ebenfalls simulierten Naturkulisse. Die Wahrheit wird vernichtet. Kein Bedarf.
Die Verehrung der Ahnen
Das Board der Kuratoren und der Jury ist unter anderem mit Mohamed Almusibli, dem Direktor der Kunsthalle Basel, mit Mario D’Souza, Direktor der Kochi Biennale, und mit Rosalia Namsai Engchuan von der Bangkok Kunsthalle international besetzt. Damit ist gewährleistet, dass der westliche Blick mit dem östlichen oft geradezu hörbar kollidiert. Hierzulande ist man schlicht außerstande, sich real darauf einzulassen, dass Geister auch in einer modernen Welt eine große Rolle spielen.
Die Verehrung der Ahnen, etwa in einem daoistischen Schrein in der Altstadt Bangkoks, lässt sich ohne Weiteres in den Alltag integrieren. Da wird nicht hinterfragt, wo die Realität endet oder enden könnte und wo die Virtualität beginnt oder bereits begonnen hat (Cedric Arnold, „This Light is Not Ours“). Westliche Begegnungen mit den Gespenstern der Geschichte sehen anders aus. Kunstvoll arrangiert werden die beschädigten Monumente der historischen Machthaber der Vereinigten Staaten von Jeremy Drummond in ein Konstrukt eingebunden, das die Wut der Untertanen mit viel Drive und realem Footage digital und filmisch verknüpft und so eine irreale, gleichwohl romantische Virtualität abbildet (Monument).
Die fiktionale Wiedergabe der Welt, des Globus und der Sterne ist Anliegen der meisten Arbeiten. Sei es im Kontext oder als Hauptakteur. Ohnehin lassen sich Naturphänomene stringenter darstellen, wenn sie digital aufbereitet sind. Stringenter und auf geheimnisvolle Weise attraktiver. Bestes Beispiel ist Alexander Walmsleys „Tropical Depression“. Werden und Vergehen von 21 Zyklonen im Indischen Ozean hat er puristisch und elegant im Split Screen organisiert. Unter anderem hat er den Microsoft Flight Simulator zugrunde gelegt, altmodisches Computer-Entertainment, das zusammen mit weniger altmodischem Footage-Material atemberaubende Naturphänomene simuliert.
Als regelrechtes Phänomen lässt sich die digital-fiktionale Video- oder Filmkunst schon deshalb bezeichnen, weil ihre Entwicklung auf der längst schon vorhandenen Technologie, auch Ästhetik der Gaming-Systeme, beruht. Unterhaltung goes Hochkultur – ein bemerkenswerter, höchst unüblicher Reifeprozess im Umkehrschluss.
Nur wenige Sammler spezialisieren sich auf Videokunst, noch weniger auf Filme. Sie sind nicht messegeeignet, ihre Eigenschaft als repräsentatives Sammlerstück ist arg überschaubar. Es sind Institutionen und Museen, die sich um ihre Förderung verdient machen. Und Festivals wie das SMAFF. Das ist freilich lobenswert, doch zu wenig und daher bedauerlich. Viele der Teilnehmenden sind als Bildhauer tätig, arbeiten mit Installationen, sind mit einer Galerie verbunden oder lehren an Kunsthochschulen. Das zahlt die Rechnungen. Und speist die Energie.
Einer der wenigen Stars der Szene ist der französisch-libanesische Künstler und Filmemacher Valentin Noujaim. Begleitet vom treibenden Sound von Space Afrika und von mystischen Versfragmenten aus Dantes Inferno, streifen in Opera Omnia zwei schwarze junge Männer durch die Nacht von Manchester, vorbei an verlassenen, unbrauchbaren Industrieanlagen. Ihr Reservoir der Erinnerung wird zum Leitmotiv schwacher, im Dunkel kaum wahrnehmbarer Hoffnung.
Die Reise einer Gruppe halbwüchsiger zypriotischer Mädchen zu einem Vergnügungs-Hotspot für Jugendliche und Touristen entpuppt sich als veritable Metapher für die transitorische Verfassung, in der wir uns – zerstörerisch oder nicht, wer weiß das schon – derzeit befinden. In ihrem halb unschuldigen, halb berechnenden, trotzig-unsicheren Auftreten, ihrer Großspurigkeit samt irrwitzigen Dialogen und mehr oder weniger katastrophalen Outfits sind sie die perfekten Role Models provinzieller Adoleszenz. Und maßloser Ignoranz. Marina Xenofontos Film „Overnight Coup Plan“ siedelt den Vergnügungspark neben einem britischen Militärstützpunkt an. Die Mädchen, liebenswert und abenteuerlustig, ignorieren, wiewohl entsprechend geprägt, die kolonialistische oder postkolonialistische Vergangenheit ihrer Lebenswelt. Zu ihrer Zukunft gehört die Akzeptanz der Virtualität in Kunst und Ausdruck jedweder Art.