Warum seine Mandanten jetzt Goethe, Proust, Nabokov heißen
Mit wenigen Strichen – und schriftstellerische Striche sind bekanntlich Sätze – ein ganzes Setting fürs Kopfkino zu zeichnen, das beherrscht Ferdinand von Schirach perfekt. Er schreibt eingängig, ähnlich wie Bernhard Schlink und Juli Zeh, wie Georg M. Oswald und Elisa Hoven. Dass gute Juristen auch gut und verständlich mit Sprache umgehen können sollten, hat die Strafrechtsprofessorin und Verfassungsrichterin Hoven erst kürzlich im WELT-Gespräch betont.
Schirach, Jahrgang 1964, ist mit (fiktiven) juristischen Fallgeschichten bekannt und erfolgreich geworden. Er bietet die Form von Literatur, auf die sich Ärzte, Manager und alle anderen Gelegenheitsleser bestens einigen können, wenn sie etwas lesen wollen, das sich belletristisch anfühlt und nicht gleich episch lang ist. Schirach schmeckt nach Literatur. Nach Tiefe, Tragik und Leben, das es in unschuldig nicht gibt.
Die Bücher von Schirach sind meistens dünn, 100 bis 200 Seiten, und erscheinen mittlerweile fast jährlich. Der Markt gibt es her. „Regen“, sein zuletzt erschienener Theatermonolog, ist kaum aus den Top 20 der Bestsellerlisten verschwunden, da darf „Der stille Freund“ Einzug in die Charts halten. Und es wäre das Billigste, Schriftstellern vorzuwerfen, dass sie den Markt bedienen. Einige der fleißigsten und besten Romanciers der Welt, von Charles Dickens über Joseph Roth bis Georges Simenon, haben den Markt bedient, und nicht zum Schlechtesten.
Wohin geht die Marke Schirach?
Eher aufschlussreich ist die Beobachtung, dass und wie erfolgreiche Schriftsteller sich wandeln. Hier ist bei Schirach, weg von den reinen Fallgeschichten hin zum Bühnentext und Fernsehspiel mit interaktiver Zuschauerbeteiligung („Terror“, „Gott“) eine eindeutige Entwicklung vom erzählenden Juristen hin zum sich selbst thematisierenden Schriftsteller und Ethiker erkennen. Schon eine Weile (seit 2018) lässt Schirach seine Geschichten nicht mehr als „Stories“ betiteln (in nicht deutscher Rechtschreibung, um sie nicht zu deutsch und Ingo-Schulze-haft aussehen zu lassen). Nein, jetzt dürfen sie im Klappentext ganz ehrlich Erzählungen heißen oder gleich ganz ohne Genre-Etikettierung auf dem Buchdeckel daherkommen.
Im neuen Schirach-Band, der 14 Texte enthält, lässt Schirach die bloßen Plots in einigen Fällen ganz hinter sich und wird atmosphärischer als je zuvor. Zeit ist ein heimliches Leitmotiv, Stefan Zweig, Vladimir Nabokov und Marcel Proust sind allesamt kanonische Referenzen, letzterer natürlich mit der obligatorischen Madeleine-Szene. Manche Prosa-Stücke sind eigentlich klassische Betrachtungen oder Feuilletons, also Formen für literarische Feinschmecker, jedoch in perfekter Konfektionierung – etwa ohne Robert-Walser-Manierismen oder moderne Plauderkrankheiten gereicht, denn einen Kolumnenplapperton hat Schirach sich erfreulicherweise nie zugelegt. Eine Betrachtung ist Goethe gewidmet, ein Kurz-Essay mit dem Titel „Wirklichkeit und Wahrheit“ denkt ernüchternd über die heutige Macht von Terrorpropaganda und Desinformation nach (etwa durch die Hamas nach dem 7. Oktober 2023).
Mehrere Geschichten haben eine Schriftstellerfigur im Plot, mindestens aber eine Tuchfühlung zur literarischen und kulturellen Welt. Manche Texte sind nur Skizzen, sie widmen sich etwa dem Wiener Architekturkritiker Adolf Loos, dem Privatgelehrten Egon Friedell oder dem Tennisspieler Gottfried von Cramm – allesamt keine unterbelichteten Gestalten, über die die Welt jetzt dringend noch eine Betrachtung oder Erzählung gebraucht hätte, aber irgendwo muss der Stoff ja auch für Ferdinand von Schirach herkommen, wenn schon nicht mehr aus den Gerichtsakten.
Erste Kritiker monieren das bereits, aber müssen Autoren auf immer und ewig einer Masche treu bleiben? Ist es nicht seltsam, wenn ausgerechnet die Literaturkritik Schriftstellern keine Entwicklung gönnt, sondern sie im Käfig des Immergleichen verwahrt wissen will? „Kulturindustrie“ nannte Adorno den Hang zur Masche.
Nicht alle Texte im neuen Schirach-Band sind gut, aber alle haben den Schirach-Sound, der im Text „Unfälle“ kulminiert, wenn ein Ich-Erzähler (natürlich Schriftsteller) im Café sitzt und sich eine ergreifende Geschichte anhört, die folgende Moral hat: „Ein einziges Mal in seinem Leben versucht der Vater etwas richtig zu machen. Nur dieses eine Mal. Und genau dabei wird er getötet. Er, der böse Mann, kam also um, weil er etwas Gutes tun wollte. Jetzt sagen Sie mir bitte: Was ist der Sinn dieser Geschichte?“ Der Sinn dieser Geschichte ist eine Geschichte, die ihre eigene Sinnfrage stellt, ein typischer Schirach-Schluss, darin den Kalendergeschichten eines Bertolt Brecht nicht unähnlich.
Wäre Schirach nicht so erfolgreich, wie er ist, würde sein Verlag die Buchfrequenz dosieren und nur die wirklich guten Texte verlegen. Dank der Marke Schirach ist der Verlag Luchterhand aber in der komfortablen Lage einfach alle Schirach-Texte zu drucken, auch die wenig haltbaren und schnell vergessenen.
Ferdinand von Schirach: „Der stille Freund“. Luchterhand, 176 Seiten, 22 Euro