„Die Chinesen sahen die Römer als Bauernvolk, das bei schlechtem Wetter seine Herrscher absetzt“
Handel und Wandel, Mobilität und Migration, Rohstoffe und Rivalen – das sind die Konstanten von Josephine Quinns Sachbuch „Der Westen“ (Klett-Cotta), das zu den Höhepunkten dieses Herbstes gehört, weil es so kurzweilig und facettenreich durch 4000 Jahre Geschichte des Mittelmeerraums und seiner Anrainerkontinente führt. Enzyklopädisch erzählt die Cambridge-Althistorikerin von einem früh vernetzten Territorium. Quinns Qualitäten liegen darin, dass sie den neueren Trend zu Globalgeschichte einerseits mit dem lockeren britischen Schreibstil andererseits verbindet.
Denn so sehr man vor 700 Seiten Respekt haben kann, so begeistert stellt man fest: Dieses Buch schmeckt kapitelweise, jedes Einzelne ist eine unterhaltsame Expedition. Es beginnt im Jahr 2500 vor Christus in Byblos im Libanon – und endet mit der Vertreibung des Emirats Granada aus Westeuropa im Jahr 1492. Es geht etappenweise durch 30 Stationen und vier Jahrtausende. Man erhascht einen Blick auf die allererste Weltkarte, die sich auf einer Tontafel aus dem Jahr um 600 vor Christus erhalten hat. Und man lernt: Nicht alle Wege führen nach Rom.
WELT AM SONNTAG: Professor Quinn, lassen Sie uns mit einem Fundstück beginnen. Der führende deutsche Verlag für historische Themen, C.H. Beck, hat gerade ein populärwissenschaftliches Buch publiziert, dessen Titel Bände spricht. Er lautet „Die verdammt blutige Geschichte der Antike. Ohne den ganzen langweiligen Kram“, und das Inhaltsverzeichnis verspricht Kämpfe, Schlachten, Krieger, außerdem geht es augenzwinkernd um die Frage: „Wer hat den Längsten?“ – gemeint sind Speere. Täuscht der Eindruck, dass Alte Geschichte, populär aufbereitet, vor allem eines ist: ein großer Spielplatz für Männerthemen? Und wie gerät eine Frau in dieses Fach?
Josephine Quinn: Nun (lacht), ich war schon immer von antiker Geschichte fasziniert, einschließlich der sogenannten „Männersachen“, also den Imperien, Schlachten und so weiter. Was mich an der Antike im Wesentlichen interessiert, ist der Eindruck, dass sich die Menschen so stark von uns heute unterscheiden. Alte Geschichte ist in vielerlei Hinsicht das Studium einer fremden Welt. Das Nachdenken über sie wirkt befreiend.
WAMS: Woran denken Sie da konkret?
Quinn: An gute und schlechte Dinge, das geht von Sexualität bis zur Sklaverei, aber auch um Kommunikation, Interaktion und so weiter. Eine umfassende Erkenntnis, die ich aus der alten Geschichte ziehe, ist die, dass es so etwas wie menschliche Individualität kaum gibt. Natürlich gibt es Vorlieben oder Gefühle, auf deren Basis sich Identitäten ausbilden. Doch womöglich sind die kaum persönlich, sondern künden vielmehr davon, was gesellschaftlich erwünscht ist. Das grundlegende bestimmende Merkmal für Menschen ist ihr sozialer Status, wozu auch ihr Geschlecht gehört. Und die Frage, ob sie in ihrer Gemeinschaft frei leben oder versklavt, als Ausländer oder Staatsbürger und so weiter.
WAMS: Eine Grundthese Ihres Buches lautet, dass wir nur auf bestimmte Hochkulturen des Altertums fokussieren – namentlich Römer, Griechen und Ägypter – und dass das auf Kosten anderer Kulturen geht, die wir vernachlässigen. Denken wir die Antike zu schematisch?
Quinn: Ich möchte, dass wir uns mit mehr und anderen Kulturen beschäftigen als nur Griechen und Römern. Am liebsten wäre mir, dass wir dabei überhaupt nicht mehr schematisch in „Kulturen“ und „Zivilisationen“ denken – hier mag es Bedeutungsnuancen geben, insbesondere im Deutschen. Doch die Grundidee solcher Kategorien ist, dass sie geografisch und kulturell klar abgegrenzte Identitäten behaupten. Das Problem, das ich mit diesem Konzept habe, liegt in der Vorstellung fester Einheiten. Ich wollte ein Buch über Menschen schreiben, nicht über Völker.
WAMS: Und doch müssen allzu oft einzelne, rare Quellen und Funde herhalten, um Auskünfte über ganze Kulturräume zu geben. Oder wenigstens bestimmte Siedlungsformen und Herrschaftsgebiete, wo Kontakte zwischen Menschen aus sehr unterschiedlichen Erdteilen bestanden. Zu den Höhepunkten Ihres Buches gehört der Blick der chinesischen Han-Dynastie aufs Römische Reich.
Quinn: Die chinesischen Vorstellungen von Rom waren diffus. Die einzige ausführlichere Darstellung des Römischen Reichs, das Dà Qín oder Großes Qín genannt wurde, ist im „Hou Hanshu“ – dem „Buch der späteren Han“ – zu finden, einer historischen Chronik der ersten beiden Jahrhunderte nach Christus, die im 5. Jahrhundert anhand von zeitgenössischen Dokumenten zusammengestellt wurde. Da heißt es über die Römer, sie seien hochgewachsen und rechtschaffen, ein Bauernvolk, in dem sich alle den Kopf rasieren, aber bestickte Kleider tragen. Rom habe fünf Paläste, unter denen der König wechsle, einen pro Tag. Diese Könige, fügt der Text hinzu, seien nicht von Dauer, sondern würden für ihre Verdienste auserwählt und im Fall eines Unglücks wie schlechten Wetters ohne viel Aufhebens abgesetzt.
WAMS: Verschiedene Kapitel Ihres Buches erzählen von Handelsrouten. Die spätere Seidenstraße zwischen Europa und China ist sprichwörtlich. Doch wer weiß schon etwas über die antike Bernsteinroute von der Ostsee bis nach Mykene (Griechenland)? Oder über die Salzstraßen der Sahara? Am wichtigsten für die Entwicklung des Handels scheint allerdings – auf unserem blauen Planeten wenig verwunderlich – die Erfindung des Segelboots gewesen zu sein?
Quinn: Ja, diese Erfindung ist wirklich eine der großen Geschichten meines Buches, das ich um das Jahr 2500 vor Christus beginnen lasse. Damals ist Europa sehr isoliert und niemand ist wirklich dort. Europa war weit weg von allem. Es war schwierig, dorthin zu gelangen, und wenn man dorthin kam, gab es nichts zu sehen. Erst mit Segelschiffen ändert sich das. Zuerst erfinden die Ägypter und dann die Menschen aus der Levante eine Art Segeltechnologie oder perfektionieren sie so weit, dass sie damit nach Europa gelangen können, und dann beginnt man, Handel zu treiben.
WAMS: Handel oder Händel?
Quinn: Ich meine, wir wissen es natürlich nicht wirklich, ob „Handel“ ein zu höflicher Begriff ist für die Tauschbeziehungen, die sicher auch räuberisch stattfanden. Jedenfalls kommt der eigentliche Austausch, den wir archäologisch nachweisen können, erst mit den Transportmöglichkeiten zu Wasser in Gang. Die Bodenschätze aus Westeuropa, insbesondere von der Atlantikküste, egal ob Gold, Silber, Zinn oder Kupfer, können dann tatsächlich auf Boote geladen werden.
Es ist nicht so, dass man mittels Rudertechnik keine weiten Strecken zurücklegen kann, aber wenn alle Ruderer und das gesamte Wasser, das sie für eine lange Reise benötigen, untergebracht sind, bleibt nur sehr wenig Platz für andere Dinge, sodass man keine schweren Metalle mitnehmen kann. Seit man Segelschiffe hat, kann man das. Und dann beginnt für Europa eine kontinuierliche Geschichte der Interaktion mit dem Rest der Welt und die jahrhundertelange Herausbildung dessen, was wir den Westen nennen.
WAMS: Der historische Westen ist für Sie vor allem ein Konstrukt. Sie schreiben: „Der Begriff konnte so viel von Europa umfassen, wie man wünschte, und ließ sich auch auf die Kolonien in Übersee ausdehnen.“ Zugleich, so Ihre These, habe die Idee des Westens im Sinne von Okzident (im Gegensatz zum Orient) und eines lateinischen Christentums den Blick auf die Antike seit dem 19. Jahrhundert verengt?
Quinn: Ja, ich verknüpfe das mit dem Begriff der „Zivilisationen“ im Plural, wie sie der französische Historiker und Politiker François Guizot 1828 an der Sorbonne erstmals diskutierte. Mit dem Denken in Zivilisationen begannen die europäischen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts, zu klassifizieren und zu hierarchisieren. Das Bild hat sich fortan auf Hochkulturen und tiefer stehende verengt.
WAMS: Sie erinnern zum Beispiel an das Königreich Pontos, das zwischen dem dritten und ersten Jahrhundert vor Christus am Schwarzen Meer existierte. Es ist auch Thema in der heute kaum noch gespielten Mozart-Oper „Mitridate, re di Ponto“, die 1770 Uraufführung in Mailand hatte.
Quinn: Das Königreich Pontos ist ein gutes Beispiel für eine antike Kultur, die wir nicht ‚Zivilisation‘ nennen, nur weil sie nicht im Mittelpunkt unserer Vorstellung von Antike steht. Als Mithridates VI. von Pontos ab 89 v. Chr. gegen die Römer rebellierte, schlossen sich ihm viele römische Untertanen an. Er hatte große Unterstützung in der Stadt Athen, die zu diesem Zeitpunkt seit mehr als einem Jahrhundert unter römischer Kontrolle stand. Und die Menschen dort wechselten sehr schnell ihre Zugehörigkeit. Ähnliches geschah auch schon früher. Als Hannibal 218 v. Chr. in Italien einfiel, entschieden sich viele italienische Städte sehr schnell, sich ihm anzuschließen, anstatt Rom zu unterstützen. Dass das Römische Reich aufgrund verschiedener Faktoren lange Bestand hatte, lässt uns leicht vergessen, wie viele Alternativen es damals gab.
WAMS: Interessant scheint auch das Partherreich, das sich von 241 v. Chr. bis 226 n. Chr. über Mesopotamien und Persien erstreckte.
Quinn: Die Parther waren die großen Feinde der Römer – und wie alle römischen Rivalen nicht zufällig diejenigen, von denen wir heute wenig hören. Wissen Sie, zur Zeit des Kaisers Augustus galten sie als Nachfolger der Achämeniden-Perser und absolut würdige Rivalen der Römer. Die Parther waren auf Reiterei und Pferdezucht spezialisiert. Besonders gut waren sie darin, in die eine Richtung zu reiten und rückwärts in die andere zu schießen, was sehr, sehr praktisch ist, wenn man seine Feinde überwältigen will. Der sogenannte „Partherschuss“ wurde manchmal auch Abschiedsschuss genannt.
WAMS: Sie nennen es einen „Partytrick“, was unseren Lesern einen schönen Eindruck vermittelt, wie leichtfüßig und mit Witz erzählt Ihr Buch bei aller Stofffülle daherkommt. Ist das die britische Art zu schreiben?
Quinn: Nun, ich denke, es ist tatsächlich so, dass das Schreiben dieser Art von Geschichte in Großbritannien viel häufiger vorkommt als in Kontinentaleuropa oder in den USA. Eine Gefahr besteht darin, dass man versucht sein könnte, etwas zu oberflächlich zu sein, um ein möglichst breites Publikum anzusprechen. Aber ich würde sagen, dass es sehr hilfreich war, von Anfang an verschiedene Lektoren an Bord zu haben, in Deutschland, aber auch in New York und London, um eine breite internationale, aber auch intelligente Leserschaft im Blick zu behalten.
Die Britin Josephine Quinn wurde 1973 geboren und ist Professorin für Alte Geschichte an der Universität Cambridge – als erste Frau auf diesem Lehrstuhl. Quinn hat über Griechen, Römer und Phönizier sowie das antike Nordafrika publiziert, als Archäologin nahm sie an Ausgrabungen in Utica (Tunesien) teil. Sie schreibt regelmäßig für die „London Review of Books“. Ihr Buch „Der Westen. Eine Erfindung der globalen Welt“ erscheint jetzt auf Deutsch (übersetzt von Norbert Juraschitz und Andreas Thomsen. Klett-Cotta, 684 Seiten, 38 Euro).