Klingt nach Schultheater
Da kann doch etwas nicht ganz richtig sein, wenn bereits das erste Album einer Künstlerin die Schattenseiten der großen Berühmtheit verarbeitet. Eigentlich ist das pop-protokollarisch frühestens ab dem zweiten zulässig: nachdem die erste Tour gespielt wurde, man einsam und erschöpft in dunklen Hotelzimmern gelegen hat, deren Fenster sich glücklicherweise nicht komplett öffnen lassen, zumal der Aufenthalt im Freien ohnehin unerträglich geworden und nur noch mit Personenschutz möglich ist. So der bisher übliche Verlauf. Addison Rae war hingegen durchs Tanzen auf TikTok schon berühmt, bevor sie sich für eine Karriere als Popstar entschied. Im Juni veröffentlichte sie ihr von entrückter Begeisterung empfangenes Debütalbum Addison und tourt nun direkt um die ganze Welt.
In Berlin sind es 4.500 ausverkaufte Plätze, auf die sich die Besucher in ihren kurzen Faltenröcken, exzentrischen Strumpfhosen und Korsagen gedrängelt haben. Einige ermöglichen auch ihren Tangas einen Ausblick auf die Bühne und das Metalltor, dessen romantisch verspielte Details wahlweise der Eingang einer altehrwürdigen Bildungseinrichtung, eines Geisterschlosses oder eines Friedhofs sein könnten. Darüber hängt ein großer Kronleuchter und wirklich sehr viel Nebel.
Addison Rae wird von Gekreische und einem kleinen Ensemble auf die Bühne begleitet: drei Tänzerinnen, die aufgrund der fehlenden Bildschirme zuweilen mit der Sängerin verwechselt werden können, und ein Tänzer, Patrick, der für alle amourösen Handlungen zuständig ist, wenn die schimmernden, beatlastigen Dance-Pop-Songs, bei denen man seine Hände in den Wind halten möchte, in gelegentliches Gehauche übergehen. Und natürlich trägt Addison Rae ein Bügelmikrofon: für die intensiven Tanzeinlagen mit Vollplayback-Versicherung, aber auch einfach als Referenz auf diesen plüschigen 2000er-Pop. Nur dass, Verzeihung!, dessen absolute Perfektion hier fehlt. Addison Raes Performance hat etwas von einer Schultheateraufführung oder einer Talentshow um die beste Britney-Spears-Imitation.
Aber gar nicht schlimm, eher ein bisschen rührend und auch dadurch entschuldbar, dass Addison Rae gerade erst anfängt. Wäre bloß der Ton nicht so brutal übersteuert; das hätte durchaus jemand mit Erfahrung machen können. Abgesehen davon scheint es bei ihren Fans den unbedingten Willen zu geben, dieses Unfertige gut zu finden oder ihm zumindest eine bedeutsame Absicht zu unterstellen. Das sei eben das neue Image weiblicher Popstars, zumal die regierende Pop-Königin Charli xcx bereits ihr Urteil gesprochen hat, indem sie Addison Rae im vergangenen Jahr auf einem Feature zuließ. Vielleicht ist man heutzutage auch um einen wohlwollenderen Umgang mit diesen Popstars bemüht, während sich einst geschundene Figuren wie Britney Spears oder Paris Hilton erst so langsam rehabilitieren.
Berühmt für Prominenz
Berühmtheit begründet sich ohnehin nicht mehr notwendigerweise in künstlerischen Inhalten oder Talent, sondern einfach in der Person an sich und ihrer Präsenz in den sozialen Medien. Daher konnte sich Addison Rae, 2000 in Louisiana geboren, zunächst auch verschiedenen Monetarisierungsoptionen widmen: einem Parfüm, einer Kosmetiklinie, zwischenzeitlichen Gastauftritten bei den Kardashians oder in Netflix-Produktionen.
Ein erster Versuch als Sängerin scheiterte 2023 an der groben Kritik für den Song Obsession. In Berlin spielt sie ihn trotzdem, und die Reaktionen sind okay. Den Über-Hit Diet Pepsi, mit dem im vergangenen Jahr diese aktuelle Karriere erst so richtig begann, hebt sie sich bis zum Schluss auf, um noch einmal Emotionen zu erwirken. Der Song handelt davon, wie auf der Rückbank eines Autos mit beschlagenen Scheiben mehr als nur eine Unschuld verloren wird: "Unberührt, XO, junge Lust, lass uns, ah!" Sobald der Text weniger lasziv vorgetragen wird, handelt es sich jedoch weiterhin um Highschool-Parkplatz-Prosa. Trotzdem halten sich am Ende der Aufführung Addison Rae und ihre Tänzer erfreut bis erleichtert an den Händen und verbeugen sich förmlich. Vielleicht kommen sie in die nächste Runde.