Der bittersüße Klang der Verzweiflung
Bin ich verrückt? Ich bin nicht verrückt! Ich bin doch völlig normal! Aber wieso lebe ich trotzdem in einem Käfig? Und bekomme immer nur montags Besuch? – Das sind so die Fragen, die sich Rick Davies in seinem Lied Asylum stellt. Es ist ein Lied aus dem Leben eines zerrütteten Menschen, zerstört von der Grausamkeit der entfremdeten Welt.
Der Mensch hat versucht, sich anzupassen und sich zu unterwerfen, aber er konnte darüber nur wahnsinnig werden. Jetzt beteuert er seinen Betreuern vergeblich, dass er genauso gesund ist wie sie. Und er muss jetzt wirklich dringend raus aus diesem Haus hier! Gleich fährt sein letzter Zug! Doch aus dem Gesang sind längst heisere, irre, animalische Schreie geworden, von einer irren, heiseren E-Gitarre begleitet – und von schwelgend triumphierenden Streichern und einem lieblich geklimperten Klavier: In dem Moment, in dem der letzte Funke der Vernunft erlischt – in diesem Moment wird der Gesamtklang des Stücks wieder versöhnt und romantisch.
Asylum stammt aus dem Jahr 1974, es gehört zu den erstaunlichsten Stücken der Gruppe Supertramp, die Rick Davies fünf Jahre zuvor, 1969, in London gegründet hatte. Davies, 1944 in Swindon, Wiltshire, geboren, hatte zuvor schon in wechselnden Formationen Klavier, Hammondorgel und Wurlitzer Piano gespielt, nun gab ihm ein niederländischer Millionenerbe das Startkapital für eine eigene Band. Per Zeitungsannonce fand er einen Sänger, Roger Hodgson, der fortan die meisten Supertramp-Lieder mit seiner hohen, leicht quengelnden, manchmal ins Falsett sich überschlagenden Tenorstimme prägte.
Und er fand einen Gitarristen und Lyriker, Richard Palmer, der auch alle Texte für das Debütalbum schrieb: Supertramp war ein schönes, sanftes, melancholisches Progressive-Rock-Werk, noch deutlich von den Blues-Bands der Sechziger inspiriert, das Orgelspiel von Davies orientierte sich unüberhörbar an Procol Harum. Leider war dieses Debüt ebenso erfolglos wie das zweite Supertramp-Album Indelibly Stamped, auf dem Rick Davies sich erstmals auch als Sänger versuchte. Die Band wurde bis auf Weiteres aufgelöst – Richard Palmer schrieb fortan die Texte für die Prog-Rock-Gruppe King Crimson und noch später, in den Achtzigern, den Dancefloor-Klassiker Maria Magdalena für die Sängerin Sandra.
Ihr größter Hit war eine B-Seite
Rick Davies und Rodger Hodgson nahmen hingegen 1974 einen zweiten Anlauf als Supertramp – diesmal mit Erfolg. Ihr drittes Album Crime of the Century traf einen Nerv, es war ein Konzeptalbum, das die Lebensstationen eines unglücklichen Menschen zu einer Biografie zusammenfasste. Die A-Seite begann mit dem Song School, gesungen von Roger Hodgson, einer Klage darüber, wie jungen Menschen in den Lehranstalten alle Individualität und Fantasie aberzogen wird; die B-Seite begann mit dem Song Dreamer, ebenfalls gesungen von Hodgson, einem der dauerhaft größten Supertramp-Hits: "Dreamer, you stupid little dreamer / So now you put your head in your hands, oh no!"
Alle Songs wurden von Davies und Hodgson gemeinsam geschrieben, und auf Crime of the Century hatte Davies auch als Sänger mehr markante Auftritte. Es waren gerade die doppelbödigen, sarkastischen, manchmal zynischen Songs: In Bloody Well Right bestärkte er einen unglücklichen Schüler in seiner Auffassung, dass der Unterricht nichts taugt, weil es gute Bildung nur für Kinder reicher Eltern gibt, und dass er, verdammt noch mal, alles Recht hat, sich zu beschweren, "blood well right"! Doch singt Rick Davies das in so heiterem Ton zu einer so gemütlich schunkelnden Klavierbegleitung, dass es einem gleich klar wird: Hier wird der sich beschwerende Schüler keinesfalls ernstgenommen, sondern durchweg bloß beschwichtigt und auch veralbert. In Asylum versinkt Davies dann singenderweise immer tiefer im Wahn.
Und in dem furiosen, ebenfalls Crime of the Century betitelten Finale des Albums beschwört er mit zorniger Stimme das Verbrechen des Jahrhunderts – wie Lust, Gier und Ruhmsucht den Planeten zerstören –, um dann mit einer schlichten, aber unerhört eindringlich wiederholten Klavierfigur und sich darüber erhebenden Streichern und Saxofonsoli wieder Hoffnung zu stiften auf eine Welt jenseits des Elends und der Entfremdung.