Sie war die Göttin der Zukunft
Die Schauspielerin Claudia Cardinale war die schönste Verkörperung der modernen italienischen Frau. Oder anders: Sie schien das weibliche Abbild der gesellschaftlichen Modernisierung Italiens zu sein, auch in der Rückschau, in den historischen Filmen von Luchino Visconti oder in dem italienischen Sur-Western C'era una volta il West (Spiel mir das Lied vom Tod) von Sergio Leone. Cardinales Kolleginnen Sophia Loren, Gina Lollobrigida und Anna Magnani hatten ihre tiefen Wurzeln in der Archaik, im Mythos, im Süden. Sie waren Göttinnen der Vergangenheit; Claudia Cardinale war die Göttin der Zukunft.
Das hieß immer auch: Rebellion. So oder so. Auch in den weniger bedeutenden der insgesamt mehr als 100 Filmen, in denen Claudia Cardinale zu sehen war. Dabei war sie, obwohl in Tunesien geboren und aufgewachsen, eine bekennende Sizilianerin. Weit weg von Rom. Die Genesis ihrer Karriere ist selbst ein veritabler Filmstoff: Als Gewinnerin der Wahl zur "schönsten Italienerin in Tunesien" gewann sie eine Reise nach Venedig, dort liefen gerade die Filmfestspiele. Die wenigen Tage reichten, und sie hatte ihre wahre Heimat gefunden. Den Film. Obwohl der Wunsch, Lehrerin zu werden, noch einige Monate dominierte. In dem Produzenten Franco Cristaldi hat sie dann einen frühen Förderer und späteren Ehemann gefunden. Zuvor hatte es einige traumatische Ereignisse gegeben. Claudia Cardinale ging mit ein paar seelischen Narben in die Traumfabrik.
Die Anfänge ihrer schauspielerischen Karriere liegen in Frankreich, aber ihren Leinwandtypus zu entwickeln, das begann sie dann in einem Film, der selbst eine Art Wendemarke bedeutete: I soliti ignoti (Diebe haben's schwer), den Mario Monicelli 1958 drehte. Übrigens war Claudia Cardinale dort zum ersten Mal explizit als Sizilianerin charakterisiert. Der Film war eine merkwürdige Mischung aus Gaunerkomödie, sozialem Realismus und moderner Filmsprache, und Claudia Cardinale war die Frau, die sich der absurden Macho-Herrschaft erwehren musste.
Noch eine Geschichte: Wie schön Claudia Cardinale war, stand außer Frage, doch ihre Stimme wurde allenthalben als furchtbar empfunden, zumal sie anfangs auch noch nicht wirklich gut Italienisch sprach. In der Familie pflegte man vornehmlich das Französische. Wegen dieser rauen und rauchigen Stimme wurde sie zu dieser Zeit in ihren Filmen nachsynchronisiert, vornehmlich von der sizilianischen Schauspielerin Rita Savagnone. Alle wollten Claudia Cardinale sehen, niemand wollte sie hören. Bis auf Federico Fellini. In 8 1/2 (Achteinhalb) benutzte er ihre eigene Stimme als willkommenen Verfremdungseffekt für eine Traumfigur. So kam es, dass bei den Filmfestspielen in Cannes 1963 zwei bemerkenswerte Filme mit Claudia Cardinale liefen, neben Fellinis Film noch Il Gattopardo (Der Leopard) von Visconti – und in den beiden Filmen hat die Schauspielerin eine vollkommen andere Stimme. Man kann es fast metaphorisch nehmen, dass Claudia Cardinale im italienischen Kino um ihre eigene Stimme kämpfen musste.
Nach und nach wurde sie zur festen Größe im italienischen Kino, zum Beispiel in Filmen von Pietro Germi und Mauro Bolognini, darunter Il bell'Antonio, noch so eine sizilianische Geschichte über Machismo, Impotenz und Familienmacht. Bis dahin waren die Figuren von Claudia Cardinale weitgehend komödiantisch definiert; mit einer gewissen Leichtigkeit und manchmal Albernheit übersprang man die eigentlich sehr schmerzhaften Probleme einer Gesellschaft, die sich zugleich äußerlich modernisiert und innerlich den alten Codes von Ehre und Gewalt verpflichtet bleibt. Claudia Cardinale spielt da erneut die sizilianische Frau, die zu klug ist, um ständig Opfer zu bleiben, aber auch zu sizilianisch, um sich entwurzeln zu lassen.
Mit den beiden Filmen von Luchino Visconti, Rocco e i suoi fratelli (Rocco und seine Brüder) und eben Il Gattopardo, wurde diese Figur genauer, dramatischer und bis in jede schauspielerische Einzelheit kunstvoll ausgeführt. Beide Mal war Alain Delon Cardinales Partner, beide Mal war er die hyperbewegliche Peripherie und sie die ruhigere Mitte, und beide Mal war er es, der an der Modernisierung scheitert, und sie war es, die zu ihrer eigentlichen Kraft wird. Und beide, Claudia Cardinale und Alain Delon, spielten souverän mit ihrer Schönheit. Der Tanz von Delon und Cardinale in Der Leopard ist in der Filmgeschichte zum Augenblick größtmöglicher Schönheit geworden. Einer, der, natürlich, auch schon das Ende in sich hat. 1965, in Vaghe stelle dell'Orsa (Sandra – Die Triebhafte titelte der deutsche Verleih), hat Visconti Cardinale in hartem Schwarz-weiß dann zu einer neuen Elektra gemacht. Die Rächerin, die den Verrat ihrer Mutter an ihrem jüdischen Ehemann und Sandras Vater sühnt. Es ist erstaunlich, wie Claudia Cardinale in diesem Schwarz-weiß und in diesem Sujet sozusagen zu ihrem eigenen Negativ wurde. Dieses Negativ wollten aber nicht sehr viele sehen.
Bei Federico Fellini – in Achteinhalb – ist sie ganz einfach Claudia. Der Traum. Immer wieder geht es um die Begegnung einer fast übersinnlichen Erscheinung mit einer überaus rauen sozialen und sexuellen Wirklichkeit. Um die Selbstbehauptung einer Frau gegen die Projektionen ihrer Umwelt.
Auch den grandiosen Western C'era una volta il West, in dem Cardinale alle Männer überlebt und ganz buchstäblich am Ende die Geschäfte der neuen Zeit übernehmen wird, kann man ohne weiteres als sizilianische Geschichte ansehen, so wie man sizilianische Geschichten auch als Geschichten des Südens ansehen kann, in denen Mythos und Modernität aufeinanderprallen. Und weil das so ist, spielt Claudia Cardinale den Preis, den die weibliche Selbstbehauptung unter diesen Umständen verlangt, immer mit. Wie wenig sind doch die Augenblicke in Cardinale-Filmen, die von Glück oder wenigstens Entspanntheit erzählen. In C'era una volta il West sind das Positiv und das Negativ von Claudia Cardinale wieder zusammengeführt. Das Schöne und das Harte, Mythos und Fortschritt, Elektra und Eisenbahn – oft alles in einer Einstellung verbunden. Neben Der Leopard ist Spiel mir das Lied vom Tod der Film, der Claudia Cardinale allein unsterblich gemacht hätte.