Little Simz in Berlin: Gegenwart und Zukunft des Hip-Hop
Zeit für eine Zwischenbilanz in der Karriere der aufregendsten Stimmen im gegenwärtigen Hip-Hop. So muss man das wohl deuten, wenn noch vor dem Konzert Bilder aus der Kindheit über die Leinwände am Bühnenrand flackern, Familien-Snapshot aus der Vergangenheit, aus der Nachbarschaft im Norden Londons, wo Simbiatu Ajikawo vor 31 Jahren als Kind nigerianischer Migranten geboren wurde.
An diesem Abend wird zum Auftakt der „Lotus“-Tour von Little Simz im Velodrom noch einmal zurückgeschaut – bevor sich dann der Blick nach vorne richtet. Schließlich verkörpert die 31-Jährige die Zukunft des Hip-Hop, falls sich dieser Begriff überhaupt noch so einfach auf dieses wild wuchernde Œuvre zwischen Rap, Soul, Afrobeat und Funk anwenden lässt. Denn das Konzert beginnt mit einem Knall – Gitarre, Bass, Schlagzeug, Wut.
Die Dramaturgie des Abends wiederholt die des fünften Albums mit dem Doppelschlag „Thief“ und „Flood“, die bedrohlich herankriechen, bevor sie sich in einem aufgebrachten Crescendo entladen. Das muss am Anfag erst mal raus, der letzte Rest Vergangenheit. Adressiert sind die Stücke an ihren Kindheitsfreund Josiah Cover, Mastermind des britischen Soul-Kollektivs Sault und Produzent der preisgekrönten Simz-Alben „Grey“ und „Sometimes I Might Be Introvert“.
Die beiden befinden sich in einem Rechtsstreit, es geht um viel Geld, aber eigentlich um Integrität und Vertrauen. Das ist die härteste Währung für einen Menschen, der sich gegen alle Wahrscheinlichkeit nach oben gearbeitet hat.
Der private Bruch hat eine veritable künstlerische Krise ausgelöst, die in Berlin allerdings in einem hoch konzentrierten Spektakel produktiv gemacht wird. Das minimale Bühnenbild besteht aus den Blättern einer Lotusblüte, der Sumpfblume, deren Wurzeln sich in noch so schwammigem Untergrund festbeißen. Wer möchte, kann in diesem Bild eine Selbststilisierung der Künstlerin erkennen.
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Sonst steht nur ihre fantastische, vierköpfige Band auf der Bühne, die in den energischen Phasen als donnernder Gefühlsverstärker fungiert. Aber die Wut ist gleich am Anfang raus, denn Simz geht es um eine Botschaft der Liebe und Selbstheilung. Wer es nach dem Familienalbum-Intro noch nicht verstanden hat: Es wird persönlich an diesem Abend.
Das Konzert erinnert auch noch einmal daran, was für ein erstaunliches, gereiftes Werk Little Simz in ihrem Alter bereits geschaffen hat. Beim Glastonbury-Auftritt im vergangenen Jahr, ihrem bis heute größten Konzert, versprach sie dem Publikum, Augenzeuge von „Größe“, ihrer Größe, zu werden. Ihre Berliner Fans wissen das natürlich längst, aber sie werden darüber hinaus auch Zeugen einer anderen Seite der demütigen, dennoch mit beträchtlichem Selbstvertrauen ausgestatteten Ajikawo.
I pray that I’m a vessel and I stay giving all I’ve learned / If self loves means putting me first, it’s the greatest love story on earth
„Lotus“ von Little Simz
Zu dem akustischen Soul-Song „Lonely“ wird sie nur von einem einzelnen Spot beleuchtet, das Stück handelt von ihrer künstlerischen Krise nach der Trennung von ihrem Produzenten, der Isolation, den quälenden Gedanken, den Selbstzweifeln. Eigentlich sei der Song viel zu persönlich, um ihn vor so vielen Menschen zu singen, hat sie zuvor noch erklärt (in der Einsamkeit des Studios fällt das leichter). Aber dann entsteht in dem fast ausverkauften Velodrom tatsächlich so etwas wie Intimität, eine emotionale Verbindung zwischen Künstlerin und Publikum.
Zwischen den lauten Bangern könnten die nachdenklicheren Songs des neuen Albums, in denen Simz’ messerscharfer Flow geschliffen wird und ein fast seelenvolles Timbre erhält, leicht untergehen. Aber das Publikum versteht, dass es einem denkwürdigen Moment beiwohnt: der Selbstfindung einer Künstlerin, die in der Trennung auch eine Befreiung spürt.
Und plötzlich stehen Little Simz, davon zeugt „Lotus“ – das Album und die Tour –, alle Türen offen. „I pray that I’m a vessel and I stay giving all I’ve learned / If self loves means putting me first, it’s the greatest love story on earth“, singt sie im Titelsong. Wer bereit ist, alles zu geben, wird die größte Liebesgeschichte erleben: sich selbst zu lieben.
Eine gelungene Fingerübung zwischen Baile Funk, Trap und Kuduro war für diese neue Simz die EP „Drop 7“ im vergangenen Jahr. Im Mittelteil der Show testet sie das Dance-orientierte Material mit einem kurzen DJ-Set für den künftigen Live-Einsatz. „Seid Ihr bereit zur Party?“, spornt sie das Publikum an. Aber das hat solche Motivationsansprachen nicht nötig. An diesem Abend kann einfach nichts schiefgehen.