Jetzt schauen sie zurück
Die junge, progressive Frau hat es nicht leicht. Was soll sie nur anziehen, wie soll sie sich stylen? Inszeniert sie ihren Körper, weil sie ihn selbstbewusst feiert? Verhüllt sie ihn, weil sie nicht über Äußerlichkeiten definiert werden möchte? Schminkt sie sich wie eine Hollywood-Diva oder geht sie völlig unbearbeitet aus dem Haus? Für welche Variante sie sich auch entscheidet: Es geschieht für den oder mit dem #FemaleGaze, wenn man einem aktuellen Medienhype glauben darf. Irgendwas passiert da gerade mit diesem weiblichen Blick, er ist überall. Jeden Monat eine neue Ausstellung, eine Fotoserie, eine Tanzperformance unter diesem Titel. Aber was soll das eigentlich sein, dieser Female Gaze?
Auf Instagram, TikTok oder YouTube ist er jedenfalls ein großes Ding. Unter dem Hashtag Dressing for the Female Gaze geben junge Männer einander Modetipps, mit denen progressive Frauen zu beeindrucken seien. Fließende Hosen, schlichte T-Shirts, lässige Eleganz statt sportiv-viriler Aggressivität. Jacob Elordi und Pedro Pascal, allseits umschwärmte Hollywood-Schauspieler mit ausgeprägtem Stilbewusstsein, dienen als Vorbilder. Offenbar ist der Mann jetzt in seiner Eye-Candy-Ära angelangt: Er formuliert ganz offen, dass er ein visuelles Vergnügen fürs weibliche Publikum sein will.
Die Anhänger des neuen Männlichkeitstypus Performative Male bestechen noch zusätzlich durch Bildungs- und Sensibilitätssymbolik: Sie tragen gern feministische Bücher oder Vinylschallplatten umher und können jederzeit mit einem Tampon aushelfen. Der Female Gaze gilt in den sozialen Medien offenbar als eine Instanz, die über männliche fuckability entscheidet. Und das ist nun wirklich mal was Neues. Sind wir es doch seit Ewigkeiten gewohnt, dass vor allem intellektuell unauffällige Männer definieren, wann Frauen begehrenswert aussehen.
Der Male Gaze weidet sich am Frauenkörper
Vor 50 Jahren, am 1. Oktober 1975, veröffentlichte die amerikanische Filmkritikerin Laura Mulvey ihren bahnbrechenden Essay Visual Pleasure and Narrative Cinema. Mit ihm führte sie den Begriff des Male Gaze in den kulturwissenschaftlichen Diskurs ein. Dieser männliche Blick bestimme ganz Hollywood. Ein Actionheld, der über attraktive, bedeutungslose Frauen verfügt. Eine Kamera, die sich am weiblichen Körper weidet. Junge Girls, die halb nackt und sinnbefreit durch die Kulisse wackeln. Lippen, Brüste und Hintern als einzig gültige Argumente der weiblichen Nebenrollen. Man schaue sich nur einen alten James-Bond-Streifen an.
Mulvey kritisierte, dass Frauen in Kinofilmen bloß zum visuellen Vergnügen einer weißen Männlichkeit aufträten, nämlich der Filmemacher, Hauptdarsteller und Zuschauer. Sie seien Lustobjekte ohne relevanten Handlungsspielraum – eben Eye Candy. Mulveys Artikel war bewusst provokant, polemisch und unakademisch formuliert. Und dennoch konnte sie, in den Siebzigern, ihren Befund mit unzähligen aktuellen Filmbeispielen stützen.
Der Terminus des männlichen Blicks, das ist wichtig, meint keineswegs die Perspektive jedes männlichen Individuums auf die Welt, sondern ein mediales Spielfeld, in dem die Frau keine aktive, mündige Rolle spielt. Nur: Hat sich dieses mediale Spielfeld nicht längst auf das ganze Leben ausgeweitet? Der britische Schriftsteller und Maler John Berger formulierte es einst so: "Männer träumen von Frauen. Frauen träumen davon, dass andere von ihnen träumen. Frauen beobachten sich selbst, während sie betrachtet werden." Inzwischen ist der Male Gaze eine Chiffre für männliche Machtstrukturen und die nett gemeinte Misogynie, die heutige Medien- und Konsumgesellschaften durchdringt: Richte dich nach dem Male Gaze, sei hübsch, lieb und artig, nicht zu laut, nicht zu fordernd, dann machst du Karriere.
Da ist es doch bemerkenswert, dass ein junges Publikum jetzt den Female Gaze für sich beansprucht, zumal mit einem medienlogischen und durchaus sexualisierten Twist. Aber während alle so munter durcheinandergazen, bleibt völlig unklar, auf wen die Frau schaut und mit welchem Ziel. Ob da Männer begehrt, abgelehnt oder gleichgültig geduldet werden. Ob andere Frauen bewundert, begehrt oder beneidet werden. Ob dieser Blick heterosexuell, homosexuell oder asexuell ist. Und nicht zuletzt, ob auch Männer den Female Gaze lernen können – vorausgesetzt, er ist überhaupt eine hilfreiche, sinnvolle Perspektive.
Eine ganz neue Bildwahrnehmung
Als Laura Mulvey den Male Gaze beschrieb, blieb der Female Gaze zunächst eine Leerstelle. In den Achtzigerjahren strebten dann cinematografische, feministische und popkulturelle Seminare eine Definition an, die mehr war als ein verbittertes Aufbegehren ewig ignorierter weiblicher Perspektiven, sondern eine eigene Qualität erkennen ließ. Die Analysen und komplizierten Debatten drehten sich unter anderem um die kaum beantwortbare Frage, wie selbstbestimmt weibliches Handeln in einer von Männern gestalteten Welt sein kann. Ganz zu schweigen von einer Female Agency in Gefilden, in denen ein temporäres Machtungleichgewicht und eine Objektifizierung explizit erwünscht sind – wie zum Beispiel in der Pornoproduktion.
Im Jahr 2019 wagte es die französische Filmkritikerin Iris
Brey, aus den wichtigsten Fragen und Positionen der vergangenen fünf Dekaden eine
umfassende Begriffsklärung zu destillieren: So wichtig ihr Buch Le regard
féminin auch sein mag, es ist bisher nur auf Französisch erschienen. Der
Female Gaze, schreibt Brey, sei nicht bloß das Gegenstück zum Male Gaze,
sondern eine völlig neue Art der Bildwahrnehmung, "ein Blick, der es uns
ermöglicht, die gelebte Erfahrung eines weiblichen Körpers auf der Leinwand zu
teilen". Der Female Gaze wolle die körperlichen, psychischen und sozialen
Bedingungen des Frauseins sichtbar machen. Und das Ergebnis sind dann diese
sogenannten Frauenfilme, mit hübschen Kleidern, tollen Männern und Herzschmerz,
wie in Pretty Woman oder Bridget Jones? Oder Chippendale-Fantasien wie Magic Mike? Nicht ganz.
Der weibliche Blick hat laut Definition mit einem Voyeurismus, der Menschen aus purer Unterhaltungslust in überlegene Subjekte und gehorsame Objekte unterscheidet, nichts am Hut. Stattdessen schlägt er laut Brey "eine Art des Begehrens vor, die nicht mehr auf asymmetrischen Machtverhältnissen basiert, sondern auf Gleichheit und Gegenseitigkeit". In diesem Punkt liegt – wie damals in Mulveys Kritik am Male Gaze – ein großes gesellschaftliches Potenzial, das weit über die Filmproduktion hinausweist: "Der Female Gaze ist ein bewusster Akt und erzeugt daher bewusste, politisierte Bilder."