Zum Heulen

Die ARD hat ihr erstes Reality-Format produziert. So wirbt die Sendeanstalt selbst für ihre neue Show Werwölfe, womit sie zugleich das vermeintliche Empörungspotenzial dieser Nachricht zu beschwören und abzuschwächen scheint – ja, wir machen jetzt auch so was, aber wir machen es natürlich ganz anders, auf öffentlich-rechtliche Weise. Muss das sein? Muss man Reality-TV wirklich noch von seinem schmutzigen Ruf reinwaschen und die meist seriöse Ansprache des ÖRR darauf übertragen? Und ist das nicht fast schon eine Form der kulturellen Aneignung? Trash soll auf Tiefsinn getrimmt werden – und verliert damit im Fall von Werwölfe seinen Reiz.

Die Show mit dem Untertitel Das Spiel von List und Täuschung, in Auftrag gegeben von BR, SWR und WDR, übersetzt das Gesellschaftsspiel Die Werwölfe von Düsterwald ins Fernsehen. 13 Kandidatinnen und Kandidaten ziehen dafür in ein abgelegenes Dorf. Drei übernehmen heimlich die Rollen von Werwölfen, die sich nachts im Verborgenen treffen, um eine Person aus dem Spiel zu wählen. Die übrigen treten als Bewohner an, die in Abstimmungen versuchen, die Werwölfe zu entlarven – mit dem Risiko, dabei Unschuldige aus dem Spiel zu wählen. Auf diese Weise entsteht ein Reality-Strategiespiel geprägt von Täuschung, Misstrauen und spontanen Allianzen. Am Ende siegen entweder die Werwölfe durch gelungene Tarnung oder die Dorfbewohner durch deren Entlarvung. Anders als vergleichbare Shows wie die RTL-Sendung Die Verräter – Vertraue niemandem! weiß man nicht von allen Kandidatinnen und Kandidaten, welche Rolle ihnen zugewiesen wurde. Man soll also auch zu Hause rätseln.

Was sich auf Partys als kurzweiliger Zeitvertreib eignet, soll hier zur anspruchsvollen Fernseherfahrung werden – sozusagen Reality+. Auch deshalb wurde auf das für viele Reality-Shows übliche Casting von Prominenten verzichtet. Stattdessen wurden die Teilnehmer anhand ihrer Berufe ausgewählt, die ihnen Autorität in dem für das Spiel notwendigen strategischen Denken und Handeln verleihen. Mit dabei sind etwa eine professionelle Pokerspielerin, eine Schachgroßmeisterin, ein Mentalist, eine Gamerin, eine Soldatin, ein Schauspieler und ein Psychologie.

Genau darin liegt das Problem von Werwölfe. Reality-TV lebt vom Reiz des Unberechenbaren. Es lebt davon, dass echte Persönlichkeiten mit ihren Ecken und Kanten, ihrer Verletzlichkeit und ihren Affekten aufeinandertreffen. Es lebt von Authentizität, die auch noch im kalkuliertesten Setting durchblitzt – etwa wenn im Sommerhaus der Stars aus einem Streit beklemmende Momente entstehen, die kein Produzent hätte planen können. Werwölfe ersetzt diese Momente durch ein Rollenspiel. Niemand zeigt sich selbst, alle agieren als Figuren. Und zwar in zweifacher Hinsicht: als Verkörperung ihres Berufs und der ihnen zugewiesenen Spielidentität. Damit wird die zentrale Spannung, die Reality-TV ausmacht – das Aufeinandertreffen von Inszenierung und Realität –, im Keim erstickt. Man sieht Menschen beim Performen zu, nicht beim Leben.

Eine Kunstform wird verkannt

TV-historisch betrachtet ist das eine eigentümliche Verkehrung. Reality-TV hatte einst, mit Formaten wie An American Family oder The Real World den Anspruch zum Ausdruck gebracht, spielerisch soziale Realität zu dokumentieren: Familienkrisen, Alltagskonflikte, gesellschaftliche Fragen. In den Nullerjahren veränderte sich das Genre, und die Shows wurden zunehmend als Sozialexperimente konzipiert: Man nehme eine Gruppe Menschen und setze sie in eine künstlich geschaffene Extremsituation, um zu beobachten, was passiert. Ob im Container von Big Brother, im Dschungelcamp (mit Straußen-Anus oder Kamelhoden zum Frühstück) oder in einer von der Außenwelt isolierten Villa auf Love Island – das Setting war zwar konstruiert, doch die Emotionen, die dort hervorbrachen, waren es nicht. Das Publikum weiß, dass alles ein Spiel ist, hofft aber auf Momente, in denen das Spiel brüchig wird und das wahre Ich der Teilnehmenden durchscheint. Dieses Interesse wird oft noch einmal dadurch befeuert, dass C-Promis an den Shows teilnehmen – oder eben sogenannte Reality-Stars, die ausschließlich oder wenigstens hauptsächlich durch ihre Teilnahme an entsprechenden Shows bekannt geworden sind.

Natürlich wird Reality-TV in vielen Fällen auch zu Recht als voyeuristisch, menschenverachtend, manipulierend kritisiert. Vieles daran ist problematisch, von der Castingpraxis bis hin zu kalkulierten emotionalen Eskalationen, die für die Teilnehmenden schwer abzusehende psychologische Folgen haben können. Verständlich also, dass es das öffentlich-rechtliche Fernsehen anders machen wollte.

Nichts gelernt von Zilli, Billi und Willi: Die Kandidatinnen und Kandidaten aus "Werwölfe" wohnen in Holzhäusern. © ARD/​BR/​SWR/​ITV/​Homayoun Fiamo

Werwölfe ist keine grundsätzlich schlechte Sendung. Sie wurde hochwertig produziert, mit gutem Setdesign und Michael Kessler als hervorragendem Sprecher. Die Kandidaten sind interessante Persönlichkeiten und gehen niveauvoll miteinander um. Dass man nicht bei jedem die zugewiesene Rolle im Rahmen des Spiels kennt, macht die Show spannend. Gerade wegen solcher Qualitäten ist es schade, dass sich Werwölfe vor allem durch die Abgrenzung vom klassischen Reality-TV profilieren will – und damit auch durch dessen Abwertung. Fans der Kunstform werden dadurch mindestens abgeschreckt und schlimmstenfalls ebenfalls abgewertet. Trash – die Lust am Schlechten, am Übermaß, an der Eskalation, am kalkulierten Affekt – ist kein Irrtum, den es zu korrigieren gilt. Er ist die Signatur eines Genres. Wer das ignoriert, versteht nicht nur die Logik des Reality-TV falsch, sondern auch die Lust seiner Zuschauer.

Reality-TV fasziniert nicht trotz, sondern wegen seiner Abgründe. Hier gibt es keine erzieherischen Lektionen, keine politische Korrektheit (aber auch keine prinzipielle Ablehnung derselben), sondern Exzess, Kitsch und Eskalation. Dass die ARD nun ausgerechnet dieses Genre veredeln möchte, indem sie es mit einer vermeintlich anspruchsvollen Ansprache verbindet, wirkt deshalb wahnsinnig unbeholfen. Offensichtlich ist es ohnehin: Verhielte sich ein Kandidat aus Werwölfe so durchschaubar, würden ihn die anderen bei der ersten Gelegenheit enttarnen.

Die zwölf Folgen von "Werwölfe" erscheinen in der ARD-Mediathek. Neue Episoden sind jeweils donnerstags verfügbar.