Wir werden wieder tanzen
"We will dance again", mit diesen optimistischen Worten beginnt und beendet Julia Klöckner ihre Rede. Das ist kein Satz, den man mit dieser Bundestagspräsidentin verbinden würde, sondern das Motto einer Ausstellung in Berlin, die am 7. Oktober, dem zweiten Jahrestag des Hamas-Attentats auf Israel, eröffnet wird und bei deren Gedenkfeier Klöckner am Abend spricht. Unter dem riesigen Baldachin, der mal eine Tanzfläche überspannte, steht heute kein tanzendes Publikum. Viele, die gekommen sind, tragen gelbe Schleifen am Revers, hören aufmerksam zu und klatschen nun.
October 7, 06:29 AM – The Moment Music Stood Still lief bereits in Tel Aviv, Buenos Aires und etlichen US-Metropolen, nun ist die Ausstellung erstmals in Europa zu sehen, und zwar in einem der Hangars des ehemaligen Berliner Flughafens Tempelhof. Sie will den Angriff der Hamas auf das Nova-Musikfestival am 7. Oktober 2023, bei dem Hunderte junge Menschen starben und 44 von ihnen als Geiseln gefangen wurden, erfahrbar machen: durch ein multimediales, immersives Erlebnis. Ein Video, in dem Überlebende erzählen, welche Bedeutung der besondere Mikrokosmos dieses Festivals für sie hatte, endet mit Aufnahmen, die zeigen, wie morgens um 6.29 Uhr die Musik abgedreht wird. "Roter Alarm!" wird vom DJ-Pult gerufen. "Es sind Raketen in der Luft!" So beginnt die Ausstellung, wie das Nova endete.
Zunächst die Täterperspektive: Bildschirme zeigen wackelige Handyaufnahmen vermummter Hamas-Terroristen. "Gott ist der Größte!", schreien sie, während sie mit ihren Maschinengewehren auf das Festivalgelände zustürmen: "Wir sind auf dem Weg ins Paradies, Leute!" Eine Treppe führt hinunter ins Zentrum der Ausstellung, einen nachgebauten Campingplatz. Zelte, Hängematten, Klappstühle, Lichterketten, Chipstüten, eine angebrochene Zigarettenschachtel, ein Backgammon-Brett, eine zerdrückte Cola-Flasche: Sämtliche Exponate, nun in rötliches Licht getaucht, stammen vom Nova-Festivalgelände. Der Bartresen, die DJ-Kabine, sogar die gelben Toilettenkabinen stehen hier, mit Einschusslöchern an den Türen. Auch der Baldachin, unter dem am Abend die Gedenkfeier stattgefunden hat, ist das Original.
Wer schon einmal auf einem Festival wie dem Nova war, erinnert sich an das Gefühl in den frühen Morgenstunden, wenn die ersten Sonnenstrahlen in die müden und gleichzeitig ekstatischen Gesichter scheinen, wenn auf eine durchtanzte Nacht allmählich ein Morgen folgt. Die Trance-Musik, die vom Dancefloor über den nachgebauten Campingplatz im Hangar von Tempelhof schallt, ruft solche Assoziationen wach. Doch auf die Nacht des 6. Oktober folgte in der Wüste Negev kein solcher Festivalmorgen. Die zwischen den Zelten aufgebauten Monitore und Handybildschirme erzählen etwas anderes: Überlebende berichten, wie sie rannten, wie sie sich stundenlang in Gebüschen, Müllcontainern und Kühlschränken versteckten, wie sie mit ihrem Leben innerlich schon abgeschlossen hatten. Ein Polizist sichtet das Festivalgelände voller Leichen. Man hört das letzte Telefongespräch einer 22-Jährigen mit ihrer Mutter.
Grausamkeit wird spürbar
Neben ausgebrannten Autowracks ist ein Schutzbunker nachgebaut. In solche Betonquader, nur wenige Quadratmeter groß, flüchteten sich manche Festivalteilnehmer vor den Raketen – nichts ahnend, dass die Hamas-Terroristen die Bunker nur wenig später mit Handgranaten und Maschinengewehren attackieren würden. Den Kuratoren gelingt es, die Grausamkeit, die den Menschen dort widerfuhr, spürbar werden zu lassen, ohne dass sie allzu ausdrücklich wird. Eine Überlebende erzählt in einem Video, wie sie sich unter all den Leichen tot stellte. Ein Foto zeigt den Boden eines Bunkers nach seiner Evakuierung: nur ein Haufen blutdurchtränkter Schuhe. Auch der Raum, der sich eigens der sexualisierten Gewalt widmet, deutet eher an, als dass er die grausamen Misshandlungen ausführt.
Im zweiten Raum stapelt sich zurückgelassene Kleidung der Festivalbesucher: Auf einem Tisch sammeln sich Schuhe, auf einem anderen Rucksäcke und Jacken, die teils Einschusslöcher aufweisen. Die Assoziation zu Holocaustmuseen, in denen die Bekleidung der in den Konzentrationslagern Ermordeten gezeigt wird, ist wohl beabsichtigt. Im letzten Teil folgt der sogenannte Raum der Heilung, in dem es um die 3.500 Überlebenden und ihre Angehörigen geht, um die Versuche, durch Therapie, Heilzentren und kollektives Erinnern die traumatischen Erfahrungen aufzufangen.
October 7, 06:29 AM möchte aufwühlen, und das gelingt. Umso irritierender wirkt die Sprache der Ausstellungstexte: Von "strahlenden Gesichtern", die "bedingungslose Liebe" feiern wollten, ist die Rede, von "schönen Engeln", die "jetzt im Himmel" und "zwischen den Sternen" tanzen, und der "beständigen Stärke der menschlichen Seele".
Als die Ausstellung am ersten Jahrestag des 7. Oktober vor einem Jahr an der New Yorker Wall Street eröffnet wurde, protestierten propalästinensische Demonstranten vor dem Ausstellungsgebäude. Vor dem Tempelhofer Flughafen ist am Abend von Protesten keine Spur, Polizisten patrouillieren um das Gelände. Am Alexanderplatz kommen zeitgleich trotz des kurzfristigen Verbots einer Demonstration 500 Menschen zusammen, laut Angaben der Polizei rufen sie Parolen wie "Glory to our fighters", "Ehre unseren Kämpfern".
Wie ein Geist aus der Flasche
Julia Klöckner warnt in ihrer Rede vor Antisemitismus. Wie "ein Geist aus der Flasche" greife er um sich, sagt sie, auch dass sich die Berliner Kultur- und Clubszene nach dem 7. Oktober kaum vernehmbar geäußert habe, dass Menschen weiterhin das Massaker leugnen würden, dass Antisemitismus in den "angeblich gebildeten Räumen von Universitäten" wieder salonfähig geworden sei. "Es geht nicht darum, wer auf welcher Seite steht", formuliert es die Bundestagspräsidentin kurz vor Abschluss ihrer Rede. "Am Ende geht es immer um die Seite des Menschseins."
Hat man Klöckner, dem israelischen Botschafter Ron Prosor, dem arabisch-israelischen Aktivisten Yoseph Haddad, dem Nova-Mitgründer Ofir Amir und der Moderatorin Melody Sucharewicz zugehört, fällt eins auf: Kein Wort verlieren die Redner über die derzeitige Situation in Gaza. Es geht in dieser Ausstellung selbstverständlich um das Massaker des 7. Oktober, um die bestialische Gewalt der Hamas-Terroristen, um den schlimmsten Angriff auf jüdisches Leben seit dem Holocaust. Und dennoch steht sie im Spannungsfeld der Debatte um den Gazakrieg. Hätte ein solcher Abend nicht auch ein Anlass sein können, nicht allein der Toten, Entführten und Angehörigen des 7. Oktober zu gedenken, sondern auch der zivilen Opfer in Gaza?