Ihr habt doch einen an der Waffe

Was waren das damals für herrliche Zeiten für einen Verteidigungsminister. Im Deutschland des Jahres 2011 brummte die Wirtschaft, die Europäer vertrugen sich brav miteinander, und drüben in den USA regierte Obama. Da durfte Karl-Theodor zu Guttenberg ruhig ein kumpeliges Verhältnis zum Bürger pflegen. Es gab ja wenige Anlässe, an denen man mit strenger Miene eine unpopuläre Entscheidung durchsetzen musste. Warum auch irgendjemand zu etwas zwingen? Der Wohlstand war gesichert, der Weltfrieden genauso. Wehrpflicht? Weg damit, es lief ja.

Doch 14 Jahre später läuft überhaupt nichts mehr. Der Wohlstand ist gefährdet, der Weltfrieden futsch, und plötzlich müssen lauter unpopuläre Entscheidungen getroffen werden: Weg mit der Pflegestufe 1, rauf mit den Deutschlandticketpreisen. Die unkumpeligste all dieser Entscheidungen hat jedoch Verteidigungsminister Boris Pistorius zu vertreten, der die Wehrpflicht wiedereinführen muss.

Solch eine politische Sprecherposition entspricht einem vollkommen anderen Rollenfach als das eines Entscheidungsträgers in Wohlstandszeiten: Anstelle von Nahbarkeit muss man auf einmal Entschlossenheit und Autorität ausstrahlen. Schließlich erweist man den Menschen keine Nettigkeit mit gefälligen Gesetzen, sondern mutet ihnen zusätzliche Pflichten zu. Solche Zumutungen verkaufen sich nicht ohne eine gewisse Überzeugungskraft.

Und leider dürfte es wohl bislang niemanden so wirklich überzeugt haben, was die Entscheidungsträger in der aktuellen Wehrpflichtdebatte ausstrahlen: Konfusion und Unsicherheit. Denn um die zusätzlichen 80.000 Soldaten aufzutreiben, die der Bundeswehr laut aktuellen Berechnungen fehlen, gibt es vonseiten der Regierungskoalition nicht einen entschlossenen, sondern zwei konkurrierende Pläne.  

Schon während der schwarz-roten Koalitionsverhandlung hatte Pistorius eine Rückkehr zur Wehrpflicht ab 2027 vorgeschlagen – samt der Einführung eines verpflichtenden Fragebogens, in dem junge Männer Auskunft über ihre Tauglichkeit machen müssen. Der CDU hingegen war dieser Ansatz nicht verbindlich genug, sie schlug deshalb das dänische Modell einer Wehrpflichtlotterie vor: Für den Fall, dass die Fragebögen nicht genügend Freiwillige anlocken, sollte das Los entscheiden, wer in die Wehrpflicht genommen wird.

Wer auf beiden Seiten genau welchen Vorschlag gemacht und wer welchen Kompromiss hingenommen hat, lässt sich schwer rekonstruieren. Fest steht jedenfalls, dass das Vorhaben auf den letzten Metern gescheitert ist und sich beide Seiten – wie man es ja inzwischen von dieser Koalition gewöhnt ist – mal wieder zerstritten haben. Es ist unklar, was nun passieren soll, darüber wird am Freitag im Bundestag diskutiert.

Was aber jetzt schon umso deutlicher wird: So eine Meinungsverschiedenheit im fortgeschrittenen Stadium und auf offener Bühne wirkt weder kumpelig noch entschlossen. Und man fragt sich: Warum sollte eigentlich ein junger Mensch sein Leben für so einen Staat riskieren wollen, der so zaudernd darum bittet und offenbar selbst nicht so wirklich weiß, was er genau fordern soll? 

Zumal die Gesetzesentwürfe schon rein formal eine seltsame Entscheidungsphobie ausstrahlen. Der Vorschlag von Pistorius würde nämlich auf absehbare Zeit genau genommen gar nichts ändern. Der Fragebogen für Männer (den Frauen übrigens freiwillig ausfüllen können) simuliert zwar den Anschein einer politischen Maßnahme, indem er junge Menschen in irgendeiner Form in die Pflicht nimmt. Doch da er niemanden in die Verlegenheit bringt, sich aktiv verweigern zu müssen, bliebe es vorerst bei der bittstellerischen Rekrutierungsmethode der Bundeswehr. Die tatsächlich unbequeme Entscheidung, jungen Menschen die Konfrontation mit der Wehrpflicht zuzumuten, wäre hingegen anderthalb Jahre in die Zukunft aufgeschoben.

Das Losverfahren würde dagegen zwar sofort eine tiefgreifende politische Veränderung mit sich bringen. Doch auch hier entbindet sich der Staat von seiner Pflicht, eine unangenehme Entscheidung treffen zu müssen. Denn letztlich übergibt er diese Verantwortung an den Zufall des Loses – wenn da jemand nach dem Abitur ein Jahr Lebenszeit verliert, liegt's nicht an der Politik. Das Schicksal ist schuld. Jens Spahn mag die Wehrpflichtlotterie noch so emphatisch als "fair" loben – genauer betrachtet ist sie das Gegenteil: willkürlich.  

Dieser verdruckste Politikstil ist nicht nur das Ergebnis einer verkrachten Koalition. Mehr noch ist sie das Resultat einer verbreiteten Vorstellung der Demokratie als Komfortzone, als Dienstleistungsverhältnis zwischen Staat und Bürger. Alles, was nach Pflichten und Freiheitsbeschränkung klingt, wird dagegen als autoritär wahrgenommen. Aber es besteht ein Unterschied zwischen einem autoritären Regime und einem demokratischen Staat, der Autorität ausstrahlt. Das Regime zwingt seine Untertanen unter Gewaltandrohung, sich seinem Willen zu beugen; der demokratische Staat hingegen findet Argumente, um seine Bürger zu überzeugen.

Nur scheint die schwarz-rote Koalition unter Friedrich Merz in der Wehrpflichtdebatte seine Bürger nicht überzeugen, sondern tatsächlich noch beliefern zu wollen. Beinahe wirkt es so, als hätte man den hoffärtigen Kellner eines Restaurants am Bestelltelefon, der selbst unsicher ist, was denn gerade so im Angebot ist. Schwedisches Modell? Freiwilligkeit? Fragebogen? Freiwilliger Fragebogen für Frauen? Ach so, doch Pflicht. Oder doch dänisches Modell! Also Losverfahren mit Freiwilligkeit? Lieber doch nicht? Äh, sorry, Dänisch ist heute leider aus. 

Dabei war es doch eigentlich Boris Pistorius, der mit einer Mischung aus Ruhe und Kernigkeit zum Liebling der Deutschen aufstieg und genau jene politische Persona repräsentierte, die es jetzt bräuchte. Stattdessen ziert er sich ausgerechnet jetzt, eine klare Wehrpflicht einzuführen – und zwar zu einem Zeitpunkt, dessen Dringlichkeit sich angesichts der über dem Nato-Gebiet herumschwirrenden Drohnen eigentlich von selbst erklärt. Ob Putin es fassen kann, wenn er hört, dass Deutschland gegen ihn mithilfe einer großen Tombola aufrüsten möchte?

Natürlich ist Fingerspitzengefühl angebracht, wenn man von jungen Menschen fordert, ihre Zeit und im Zweifelsfall auch ihr Leben herzugeben. Erst recht in einem Land, das im vergangenen Jahrhundert die Leben seiner Bürger zum Zweck eines Menschheitsverbrechens verheizt hat. Aber solange diese Regierung sich nicht die Verantwortung zumutet, schwere Entscheidungen zu treffen, darf sie auch nicht von den jungen Menschen in diesem Land erwarten, sich freiwillig die Strapazen eines Wehrdienstes zuzumuten.