Wie der Mensch zum Messie wurde
Die Steinzeitmenschen hatten noch keinen Bedarf für Marie Kondo. Wenn sie Dinge besaßen, dann waren die eher Mangelware, und vermutlich kam es selten vor, dass der fürs Kochen oder Rösten oder schlichtes Zerhacken zuständige Urmensch seinen Mitbewohner angeraunzt hat, er solle mal seine Höhlenecke aufräumen. Aber wer weiß? Ansammeln lässt sich alles Mögliche, schon Kinder sammeln schöne Steine, selbst wenn die nicht als Faustkeil taugen.
Der amerikanische Archäologe Chip Colwell geht in seinem Buch „Habseligkeiten“ (Reclam, 32 Euro) gleichwohl davon aus, dass das Horten, das Ansammeln, der Überfluss an Dingen ein sehr spätes Phänomen der Menschheitsgeschichte war – und die Wurzel aktuellen Übels. Er beruft sich auf den gesunden Menschenverstand, denn schließlich konnte ein Jäger und Sammler der Altsteinzeit schon aus Gewichtsgründen nicht allen möglichen Krempel mit sich herumschleppen, etwa eine Kollektion besonders erinnerungsträchtiger Tierschädel. Trophäen sammeln und an die Wand hängen, das konnten sich dann erst Adelige leisten, die Muße und genug Wände zum Dekorieren hatten.
Heute, so Colwells Ausgangsbeobachtung, sind wir alle ein bisschen Messie. Wir ersticken in angehäuftem Zeug. Ein durchschnittlicher amerikanischer Haushalt soll etwa 300.000 Dinge enthalten, vom Kinderzimmer-Baustein bis zur Werkbank im Hobbykeller, von Gartengeräten, Autoersatzteilen, Erbstücken bis zur Schuhkollektion und der Hausbibliothek. Hierzulande sind es wohl weniger, was an der Wohnfläche liegen dürfte.
Wobei: Für Überflüssiges ist Platz in der kleinsten Hütte. Zur Not kann man einen Storage-Space mieten – oder wegwerfen. Einem Bericht der Weltbank zufolge produziert die Menschheit pro Jahr mehr als zwei Milliarden Tonnen Müll. Bei solchen Zahlen fühlt man sich an das Schicksal des einsamen Entsorgungsroboters im Pixar-Film „WALL·E – Der Letzte räumt die Erde auf“ erinnert.
Colwell schreibt unterhaltsam eine klassische Big History im Stile des Bestsellerautors Yuval Noah Harari, wobei seine Gewährsleute eher David Graeber und David Wengrow mit ihrer herrschaftskritischen Alternativgeschichte in „Anfänge“ sind.
Der Originaltitel lautet „So Much Stuff. How Humans Discovered Tools, Invented Meaning and Made More of Everything“. Darin ist schon Colwells Dreischritt der kulturellen Evolution zu erkennen: erst der Werkzeuggebrauch, dann die Überformung der Dinge mit Bedeutung – also etwa als Kultgegenstand, Kunstwerk oder Schmuck – schließlich die massenhafte Produktion von allem und jedem, die zu dem Krempel geführt hat, der uns nun über den Kopf wächst.
Die ersten Steinwerkzeuge lassen sich auf die Zeit vor 3,3 bis 3,4 Millionen Jahren datieren. Von „Habseligkeiten“, wie das schöne deutsche Wort im Titel lautet, kann aber wohl erst die Rede sein, als den bloßen Gebrauchsgegenständen eine Bedeutung zugemessen wurde. Feststellbar ist dies erst mit dem Aufkommen von „Kunstwerken“, die Colwell mit dem bemalten Fumane-Stein 32.000 bis 36.500 Jahre zurückdatiert.
Im zweiten Teil wird sein Buch dann zu einer Wirtschaftsgeschichte, die den industriellen Revolutionen nachgeht und den Techniken der Bedürfniserzeugung die Schuld daran gibt, dass wir seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr wollen und anhäufen – auch ohne Bedarf.
„Kehret um!“, lautet der erwartbare Refrain, der den ingeniösen Manipulationen des Kapitalismus und seinem Wachstumsfetisch die Schuld zuweist. Hätte man dazu die Steinzeit als Gegenbild gebraucht? Ob der Mensch tatsächlich einst in Bezug auf seine Dingsucht ein anderer war, muss Spekulation bleiben. Kulturelle Evolution vollzog sich auch durch Sprache. Und niemand weiß, wie viele Lieder, Verse und Erzählungen die Menschen vor Erfindung der Schrift anhäuften – kulturelle Artefakte, die wir heute analog und digital aufbewahren. Dinge, besser: Objekte machen uns zum Menschen. Sie sind unser Gegenüber, das, was wir nicht sind. Aber ohne die Dinge wären wir auch nicht wir.
Chip Colwell: „Habseligkeiten. Eine Geschichte der Menschheit vom Faustkeil bis zum Smartphone“. Aus dem Englischen von Holger Hanowell. Reclam, 428 Seiten, 32 Euro.