Als Deutschland sich neu erfand: "Wunderland" von Harald Jähner

Kaum sind die Trümmer weggeräumt, setzt in Deutschland ein Wirtschaftsaufschwung ohnegleichen ein, auch ein nimmersatter Kaufrausch: Möbel, Autos, Reisen, Elektrogeräte. Mit dem Rock’n’ Roll erfasst die Jugend ein neues Lebensgefühl. 1957 eröffnet der erste Supermarkt, der Siegeszug der Discounter beginnt. Der Fernseher gruppiert die Wohnzimmer um. – Und plötzlich stellen sich neue Fragen: Wie soll man leben? Verlieren wir unsere kulturelle Identität an Amerika? Wie viel Freiheit braucht ein Kind, eine Ehe, ein Arbeitnehmer? Elvis Presley und Freddy Quinn geben unterschiedliche Antworten. 1967 ist die Bundesrepublik, wie wir sie kannten, im Rohbau fertig. Erstmals kommt ein deutscher Staat ohne höhere Idee aus als das Glück des Einzelnen. Eine Reise in die Lust und Mühen des Wirtschaftswunders – in die Welt der Käseigel, Neckermann-Kataloge und Stalingrad-Erinnerungen, der Gastarbeiter und eines neuen Politikertyps wie Kennedy oder Brandt, der Happenings und des Klammerblues. Als die Beatles 1967 "All You Need Is Love" singen, ist, mitten im Kalten Krieg, die Studentenrevolte bereits im Gange. Harald Jähners fulminantes Porträt der jungen Bundesrepublik, einer Zeit, in der sich alles neu formierte – und die es neu zu entdecken gilt. 

Lieber Herr Jähner, die Zeit bis Mitte der sechziger Jahre wird oft als eine der eher biederen Mittelmäßigkeit gesehen. Zu Recht?

Das ist ganz falsch. Sicher gab es eine starke Sehnsucht nach Behaglichkeit, aber das ist nach den vorausgegangenen Jahrzehnten des Außerordentlichen nur allzu verständlich. Man hatte sich eines unvorstellbaren Menschheitsverbrechens schuldig gemacht und rang nun äußerlich ziemlich hilflos um Läuterung und darum, Konventionen einzuhalten. Zugleich wurde ein wunderbar skurriles Buch wie Günter Grass ’ "Blechtrommel" ein Aufreger mit enormer Breitenwirkung. Und musikalisch kamen die Alliierten als Befreier ins Land. Als Jugendlicher hörte ich im Radio die Popmusik, die die DJs des Soldatensenders BFBS auflegten. Das klingt bis heute nach. "These Boots Are Made for Walking". Unter den Filmern ist Will Tremper eine verkannte Größe. Und Herbert Vesely. Seine Böll-Verfilmung "Das Brot der frühen Jahre" von 1962 ist ein Meisterwerk. 

Der Wandel im Lebensstil kam nicht von ungefähr. Die Wirtschaftswunderjahre lassen die sogenannte "Mittelstandsgesellschaft" entstehen, es herrscht Vollbeschäftigung, Bildungsreform und Sozialstaat nehmen mehr und mehr Gestalt an. Was bedeutete das für die Menschen damals?

In diesen zwölf Jahren von 1955 bis 1967 entwickelt sich die Bundesrepublik von einem – was soziale Schichten, Milieus und Moden anlangt – sehr übersichtlichen Gefüge, geprägt durch Arbeit und Beruf, zu einer hedonistischen Gesellschaft verschiedenster Lebensstile und Identitäten, die um Genuss und Selbstbestimmung kreisen. In rasanter Geschwindigkeit ändern sich die Lebenseinstellungen und Gefühlslagen. Eine ganz wichtige Rolle für diesen Individualisierungsschub spielte der Konsum. Der Weg vom Tante-Emma-Laden zum Supermarkt war, so sehr wir den kleinen Kaufmann auch heute nostalgisch verklären, ein Weg zu mehr Wahlfreiheit und Souveränität – auf ganz elementarer Ebene. Der Wirtschaftsaufschwung sorgte dafür, dass nun auch für die Menschen der sogenannten breiten Masse das soziale Spiel von Abgrenzung und Angleichung begann, das die Angehörigen der Eliten schon lange betrieben – mit der Wahl ihrer Autos, ihrer Kleidung, ihres Einrichtungsstils und ihrer Musikvorlieben. 

"Wunderland" beginnt mit der Rückkehr der letzten deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion und endet mit der Mondlandung 1968. Gewissermaßen vom bangen Blick nach Osten zum hoffnungsvollen nach Westen und in den Weltraum. Eine vielgesichtige, teils in sich widersprüchliche Zeit – wie spricht sie zu uns Heutigen?

Dieses lange Jahrzehnt illustriert wie kaum ein zweites die Einsicht: Es kommt immer anders, als man denkt. Wer hätte im vielerorts noch sehr armseligen Jahr 1955 gedacht, dass nach zehn Jahren unglaublichen Aufschwungs einmal ein Schlagwort wie "Überflussgesellschaft" plausibel klingen würde? Dass die Jugend die Pausetaste drücken und ein soziales Phänomen namens Gammler etwas einfordern würde, das wir heute Work-Life-Balance nennen? Wohlstand kostet eine Menge. Man bezahlte mit harter Arbeit und langen Schichten, mit Gesundheit, Naturzerstörung und für immer verbrauchten Ressourcen. Das Wirtschaftswunder gewöhnte uns Ansprüche an, die heute unbezahlbar erscheinen. Ein unaufhörlicher Boom kann kein Vorbild gesunden Wirtschaftens sein. Und doch bleibt er als solcher unvergesslich. Wir müssen wohl lernen, Wohlstand neu zu definieren.