In der Traumdisco

Oklou geht gerne auf Partys, nur um dann abseits der Tanzfläche in der Ecke zu stehen, sagt sie. Wie die Klänge sich verändern, wenn man sich von der Menge löst, wie sich ein Filter über die Welt zu legen scheint, das fasziniere sie, erzählte die Musikerin in der französischen Fernsehsendung Quotidien. Das hört man. Oklou macht nämlich eine merkwürdig sanfte Tanzmusikvariation: Clubstampfer für Drinnies und In-der-Ecke-Steher.

Dass das nur scheinbar ein Paradox ist, zeigt ihr aktuelles Album choke enough, etwa der Song obvious: Im Refrain setzt ein knarzender Bass ein, und ein heller Synthesizer, der entfernt an ein Blasinstrument erinnert, spielt eine Melodie, die so ähnlich auch in einem EDM-Track vorkommen könnte. Ganz klar sind das Versatzstücke von Clubmusik. Aber nie setzt ein ganzer Drum-Beat ein, und alles klingt ein bisschen dumpf und weit weg, so als würde die Party unter Wasser stattfinden, oder eher noch: in einem Traum. Nur Oklous Stimme klingt nah und beruhigend, so als würde sie einen an der Hand durch die Traumdisco leiten und auch sagen, dass es gar nicht schlimm ist, dass man peinlicherweise seinen Schlafanzug anhat.

"Okay, Lou." So spricht Oklou den Künstlernamen aus, der also ein bisschen klingt, als würde sie sich selbst beruhigen. Lou ist nämlich Marylou Vanina Mayniel, geboren und aufgewachsen im beschaulichen, für seine Kulturdenkmäler bekannten Poitiers in Frankreich. Schon als Kind nimmt sie Klavier- und Cello-Unterricht, besucht später ein Konservatorium für klassische Musik. Als sie dann 2013 beginnt, ihre eigene Musik im Internet zu veröffentlichen, ist diese aber bereits stark von Synthesizern und elektronischen Effekten geprägt. Deshalb lernt sie bald die Londoner Hyperpop-Szene kennen, deren Sound mit einem elektronischen Maximalismus assoziiert ist: Pionier A. G. Cook zum Beispiel, der Produzent hinter Charli XCX, liebt den grellen Sound von Trance- und Happy-Hardcore-Synthesizern. Oklou allerdings macht daraus etwas Eigenes. Auf Hyperpop-Weise manipuliert sie Clubmusik, um die Ruhe im Auge des Sturms einzufangen.

Das anderweltliche Rauschen stellt einem die Nackenhaare auf

Obwohl sie längst keine Newcomerin mehr ist, wird das dieses Jahr erschienene choke enough als Oklous Debütalbum vermarktet. Das könnte daran liegen, dass sie darauf ihren ganz eigenen Sound klarer denn je zugespitzt hat, der nicht nur irgendwo zwischen Ruhe und Party angesiedelt ist, sondern mitunter auch zwischen Klassik und Pop. Auf dem Song thank you for recording etwa gibt es ein Element, das wie ein tiefes, gezupftes Saiteninstrument klingt, ein Cello vielleicht, während im Hintergrund flötenartige Töne erklingen. Dann sind da aber auch elektronische Störgeräusche, wahrscheinlich von A. G. Cook, der an dem Song mitgearbeitet hat. Welche dieser Klänge einmal mit einem echten Instrument erzeugt wurden und dann manipuliert, damit sie fremdartig klingen, und welche wiederum digitale Klänge sind, die ein echtes Instrument nachahmen, lässt sich nicht mehr sagen.

Die Produktionen auf choke enough stammen von Oklou selbst und ihrem langjährigen Schaffenspartner Casey MQ sowie vereinzelten Gästen aus der Hyperpop-Szene. Sie haben einen Sound entwickelt, den man körperlich spüren kann: Regelmäßig stellen sich die Nackenhaare auf, wenn sich Oklous lieblich gesäuselte Melodien einmal wieder mit einem andersweltlichen Rauschen mischen und sie dabei haucht, als würde sie einem im Ohr sitzen. Kein Wunder, dass das Billie Eilish gefällt, die den Trend zum "ASMR-Gesang", ganz nah und beinah geflüstert, vor einigen Jahren mitbegründet hat. Schon lange habe sie keine Künstlerin mehr so begeistert wie Oklou, sagte Eilish neulich in einem Interview mit der britischen Vogue.

Oklous Texte sind oft kryptisch und sollen wohl in erster Linie gut mit der Musik harmonieren. Auf thank you for recording bedankt sie sich beim Internet, das sie immer gut unterhält, wenn sie einmal wieder das Haus nicht verlassen möchte – etwa mit Aufnahmen von Tornados, die sie scheinbar als beruhigend empfindet. Oft scheint es allerdings um reale oder potenzielle Wendepunkte im Leben zu gehen, um Weggabelungen und schwere Entscheidungen. Zum Beispiel: Popstar werden oder lieber eine Familie gründen? "If I ever cradle my belly", singt sie auf family and friends – ob sie wohl jemals ihren Bauch umgreifen werde. Diese Frage beantwortete sich wohl schon bald, nachdem sie den Song geschrieben hatte: Als choke enough im Februar dieses Jahres erschien, war Oklou hochschwanger und zog sich erst einmal aus der Öffentlichkeit zurück, überließ das Debütalbum sich selbst. Nun ist ihr Sohn etwa ein halbes Jahr alt, und Oklou wird mit einer neuen Deluxe-Edition auf Tour gehen.

Träume auf und abseits der Tanzfläche

Unter den zu diesem Zweck neu angehängten Songs ist ein echtes Highlight: eine Zusammenarbeit mit FKA Twigs, einer Künstlerin, die ebenfalls sehr gut darin ist, Gänsehaut zu erzeugen, indem sie zwischen Ruhe und Ekstase balanciert. Die Inspiration soll den beiden nach einem Gespräch über gemeinsame Probleme mit Bauchschmerzen gekommen sein. Viscus heißt der Song dazu passend: das lateinische Wort für "Eingeweide". Auch ohne das zu wissen, kann man spüren, dass es um etwas Intimes geht, weil die sanft pochenden Synthesizer und die fragilen Falsettstimmen klingen, als könnte sich der ganze Song jeden Moment in Luft auflösen.

Übrigens: Dass Oklou so gerne abseits der Tanzfläche steht, liegt wohl nicht daran, dass sie schüchtern wäre. Wenn sie vor Kameras tritt, wirkt sie selbstbewusst und ein bisschen verschmitzt. Sie habe aber auch nie Ambitionen gehabt, ein richtiger Popstar zu werden, sagt sie selbst: Nach ihrer klassischen Ausbildung habe sie eher damit gerechnet, eines Tages Session-Musikerin oder Musiklehrerin zu werden, sagte Oklou neulich gegenüber dem Musikmagazin Pitchfork. Oklou ist wohl Ruhe liebend, ganz ähnlich wie ihre Musik. Choke enough ist nun in den acht Monaten zwischen Standard- und Deluxe-Version, während Oklou hauptsächlich mit dem Nachwuchs beschäftigt war, ein schleichender Erfolg geworden: hier eine Erwähnung durch Billie Eilish, dort ein Auftritt im französischen Fernsehen und jüngst eines der beliebten "Tiny Desk"-Konzerte für den YouTube-Kanal des US-Radiosenders NPR. Oklou ist jetzt doch so etwas wie ein Underground-Popstar. Trotzdem wohnt sie nicht in London oder Los Angeles, sondern immer noch in einem französischen Vorort. Dort kann sie den Trubel des Popgeschäfts aus der Ferne betrachten, so als würde sie wieder abseits der Tanzfläche stehen, und vielleicht wirken auch die eigenen Erfolge dann auf beruhigende Weise traumartig.