"Es gibt keine Schönheit mehr"

Im Herbst vor zwei Jahren wird das Haus, das neben dem von Yousef el-Qedras Familie steht, von Bomben des israelischen Militärs angegriffen. Alles wackelt, alles wird erschüttert, el-Qedra greift zum Handy und tippt.


Ich kann
ein Gedicht schreiben,
mit frischem Blut,
mit Tränen, mit dem Staub in meiner Lunge,
mit den Zähnen der Planierraupe, mit Körperteilen,
mit den Trümmern des Gebäudes, 
mit dem Schweiß des Zivilschutzes,
mit dem Schreien der Frauen und Kinder,
mit dem Geheul der Krankenwagen, mit den Trümmern des Baumes, den ich liebe,
mit all diesen Gesichtern, die nach ihren Vermissten suchen,
mit der Stimme von Anas, dem Kind unter den Trümmern: "Ich lebe noch!",
mit gesichtslosen Leichen, mit Warten, Warten, Warten!


"Das Einzige, was ich in dem Moment tun konnte, war ein Gedicht zu schreiben", sagt Yousef el-Qedra heute. Jeden Moment hätte er sterben können. "Es war ein Wettlauf." An einem Dienstagmorgen fast zwei Jahre später sitzt er in der gefliesten Wohnküche seines Freunds Jameel in Marseille und dreht sich eine Zigarette. El-Qedra, 42 Jahre alt, ist palästinensischer Lyriker, geboren in Chan Junis, und einer von wenigen Tausend Bewohnern des Gaza-Streifens, die ihm entkommen konnten, seit Israels Militär dort einmarschiert ist, als Reaktion auf den 7. Oktober 2023.

Im Exil bietet die arabische Sprache Yousef el-Qedra nicht länger ein Zuhause. "Die Wörter bedeuten nichts mehr", sagt er. Das Wort Haus, zum Beispiel. Früher habe er damit Sicherheit, Familie, Intimität verbunden. Heute denkt er bei Haus an Ruinen, Leichen. "Alles ist zerstört." Was macht ein Lyriker, der seine Sprache an einen Krieg verloren hat?

"Um zu schlafen, muss ich mich abkoppeln"

Blickt man in el-Qedras Gesicht, sieht man ein junges und ein altes zugleich, wie bei einem Kippbild: Sein klarer Blick ist der eines Anfang-Vierzigjährigen. Die tiefen Stirnfalten sind die eines alten Mannes. Schlaf zu finden, koste ihn enorme Anstrengung, sagt er auf Arabisch. Sein Freund Jameel Subay, ein jemenitischer Fotojournalist, übersetzt ins Französische. Wenn el-Qedra spricht, zeichnet er mit der Zigarette zwischen seinen Fingern Kreise in die Luft, die Ellbogen stützt er auf ein Sofakissen, das auf seinen Knien ruht. "Um zu schlafen, muss ich mich abkoppeln." Abkoppeln von den Nachrichten aus Gaza, von neuen Todesmeldungen. Erst vor einigen Tagen sind drei seiner Cousins und sein Bruder bei einer Bombardierung gestorben. El-Qedra hat Freunde, Onkel, Nachbarn, Kollegen, seine schwangere Schwester an den Krieg in Gaza verloren.

Dass er dem Gazastreifen entkommen konnte, hat er PAUSE, dem Programme national d'accueil en urgence des scientifiques et des artistes en exil, zu verdanken, einem vom französischen Staat finanzierten Projekt, das Künstlern und Wissenschaftlerinnen aus Krisengebieten einen Aufenthalt ermöglicht, in diesem Jahr sind von den insgesamt 95 Teilnehmern 42 allein aus Gaza. Die Bewerbung, erzählt el-Qedra, hätten französische Freunde für ihn geschrieben, die er aus seinem Arabistik-Studium in Kairo kennt, er selbst hätte das fremdsprachige Formular gar nicht ausfüllen können. Im April dann der Anruf mit einer unterdrückten Nummer, in Gaza eine Seltenheit. Wer denn das Risiko eingehen würde, ihn anzurufen, fragte er sich, ging ran – am anderen Ende die französische Botschaft. Dann dauerte es zwei Wochen. Allein machte sich el-Qedra auf den Weg in die Stadt Deir al-Balah. Dort fuhren zwei Busse ihn und andere Teilnehmer des PAUSE-Programms an die jordanische Grenze, eine gefährliche Route, kontrolliert vom israelischen Militär.

Über die Dächer von Marseille, auf das Meer, das sich vor der Felsküste erstreckt, blickten vor el-Qedra schon viele Exilanten. Anfang der 1940er-Jahre, zur Zeit des Vichy-Regimes, bot Marseille den einzigen noch offenen Hafen, von dem jene, die durch die Nationalsozialisten verfolgt wurden, mit dem Schiff nach Übersee zu entkommen hofften. Lion und Marta Feuchtwanger, Heinrich Mann und Max Ernst verbrachten Monate ihrer Flucht in diesem Wartesaal Europas. "Alle, die in Marseille ankamen, starrten sofort auf das Wasser, als ob dort die Freiheit läge", sagt der namenlose Erzähler in Transit, Anna Seghers' Fluchtroman, den sie im mexikanischen Exil schrieb, nachdem sie ein Jahr lang in Marseille auf ein Visum gewartet hatte.

Über die Dächer von Marseille blickten vor el-Qedra schon viele Exilanten. © Théo Giacometti für DIE ZEIT
Im Exil bietet die arabische Sprache Yousef el-Qedra nicht länger ein Zuhause. © Théo Giacometti für DIE ZEIT

Für Yousef el-Qedra bedeutet der Blick auf das Mittelmeer mehr als das Ende einer geglückten Flucht. "Wenn ich an den Kais entlanglaufe, spüre ich eine Nähe zur ganzen Welt", sagt er. "In Marseille zu sein bedeutet, das Mittelmeer nicht als Grenze zu empfinden, sondern als Brücke, die Asien, Afrika und Europa verbindet." Die Stadt ist für ihn vorläufiger Ankerpunkt. Drei Jahre darf er nun bleiben, um seine Dissertation neu zu verfassen, die er fast abgeschlossen hatte, bevor sein Laptop Ende 2023 bei einem Bombenangriff zerstört wurde. Marseille sei sanft zu ihm, wird er später sagen, während er an Obstläden und Imbissen vorbei durch die dicht bebauten Gassen von Noailles läuft, dem Einwandererviertel in der Altstadt. So oft wie möglich besucht el-Qedra hier seinen Freund Jameel, er selbst wohnt beengt: Die Universität Aix-Marseille, die ihn beherbergt, stellt ihm ein Zimmer im Studentenwohnheim zur Verfügung, ein Bett, ein Tisch. Hier muss el-Qedra, um schreiben zu können, nicht mehr stundenlang in einer Schlange stehen und darauf warten, sein Handy mit einem kleinen Solarpanel aufzuladen.

El-Qedra stammt aus einer Familie, die seit Generationen im Gazastreifen lebt. So gut es geht, versucht er, mit ihr in Kontakt zu bleiben, manchmal gebe es Internet. Sein Leben unter der Herrschaft der Hamas sei von Zensur und Freiheitseinschränkungen geprägt gewesen. Für ihn ist die Terrororganisation das "Ergebnis einer kollektiven Verletzung", die aus der anhaltenden Besatzung Israels und der allgemeinen Hoffnungslosigkeit im Gazastreifen entstanden sei. Als politische Lösung betrachtet er sie nicht.

Anfang Juni, da ist el-Qedra seit einigen Wochen in Marseille, findet er mal wieder keinen Schlaf, es ist die Nacht vor seinem 42. Geburtstag. Er schreibt ein Gedicht, das er auf Facebook veröffentlicht, es trägt den Titel في الثانية والأربعين،, auf Deutsch: Mit zweiundvierzig

Mit zweiundvierzig
wird niemand geboren.
Die Knochen sind alt
und das Herz gleicht einer 
nach einem langen Sommer geleerten Kanne.
Der Wind weht an meinem Kopf vorbei,
hinterlässt in ihm das alte Gurren einer Taube,
die ihr Nest nicht fand.

Noch am gleichen Tag werden Übersetzungen des Gedichts ins Englische und Französische veröffentlicht, Letztere von Richard Jacquemond, einem der profiliertesten Arabisten Frankreichs. Am Telefon sagt Jacquemond, er habe das Gedicht in seinem Facebook-Feed gesehen und es sofort übersetzen wollen. "Ich fand den Text sehr ausdrucksstark." Noch nie habe es so viele Übersetzungen palästinensischer Lyrik ins Französische gegeben wie seit dem Krieg in Gaza. Das gilt wohl auch für andere Sprachen: Seit Oktober 2023 teilen palästinensische Schriftsteller ihre Texte in sozialen Netzwerken, woraufhin sie ins Englische, Französische oder Italienische übersetzt und auf Literaturplattformen wie Arablit oder Raseef22 veröffentlicht werden. "Im Grunde schreiben sie alle das gleiche Gedicht, als wären sie ein kollektiver Dichter", sagt Jacquemond.