Eine innige Feindschaft

Das Schweigen, das Schweigen. "Vernähte Lippen". Sprechend allein der Schmuck, den die Mutter zu besonderen Anlässen aus der Schatulle nahm: ein Bernsteinanhänger mit einem Insekt, Wahrzeichen und Verteidigung des verlorenen Landes, Ostpreußen, herznah getragene Heimat und honigfarben schimmerndes Amulett zugleich. Es diente als Schutz gegen "die Zumutungen der Zeitgenossenschaft", als Beschwörung der vor dem Krieg geborenen und im Herzen verplombten Heimatliebe.

"Du hast dich der Gegenwart, der Zeit deiner Tochter verschlossen", schreibt Dagmar Leupold Jahrzehnte später in ihrem Buch Muttermale, einer autobiografischen Annäherung, in der sich die 1955 geborene Schriftstellerin in der zweiten Person Singular an die inzwischen verstorbene Mutter wendet. Ein Buch in der Form kleiner Ansprachen und episodenhafter Erinnerungen, in dem die Tochter noch einmal das Wort an die Mutter richtet und – endlich? – ausspricht, was zu deren Lebzeiten nicht gesagt werden durfte.

Verschlossen hat sich die Mutter nicht nur der Tochter, sondern auch dem neuen Zuhause im Rheinland, wohin es die vor der Roten Armee geflohene junge Frau verschlagen hatte. Flüchtling mit Ausrufezeichen, ohne amtlich beglaubigte Identität, wie die Tochter Jahrzehnte später im Personenregister liest. Zwischen ihnen, klaftertief, "der Generationengraben voller unbestatteter Toter und unbesprochener Verstrickungen". Wie soll daraus etwas werden?

Es wird nichts draus – allenfalls etwas Herzerfrierendes. Eine Art inniger Feindschaft, ein fortlaufendes Band der Verfehlungen, eine verknotete Mutter-Tochter-Katastrophe, die die Trauer um das, was nie war, nicht einholen kann. Eine Trauer, die in Leupolds ebenso disziplinierter wie poetischer Sprache schüchtern durchscheint. Und die ihre Wirkung dadurch umso nachhaltiger entfaltet.

Die Mitgift aus den versiegelten Truhen des Schweigens hat sich in der deutschen Literatur in unzähligen Büchern niedergeschlagen, zuerst in "Suchbildern" über die nationalsozialistisch geprägten Väter und Brüder wie etwa bei Christoph Meckel oder in Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders. Seltener wurden bisher die Mütter ins Visier genommen, beispielhaft dafür ist noch immer Peter Handkes Wunschloses Unglück oder neuerdings Melitta Brezniks berührendes Buch Mutter. Es scheint so zu sein, dass die Beziehung zwischen Müttern und Töchtern in der durch die Kriegstraumata geprägten Generation dem ererbten Schweigegelübde noch immer gehorcht.

Wie schon in der autobiografischen Fallgeschichte Lavinia (2019) besichtigt Dagmar Leupold auch in ihrem neuen Buch die deutsche Nachkriegszeit mit ihrer aus dem Krieg und den verdrängten Verbrechen geborenen Lieb- und Sprachlosigkeit zwischen Eltern und Kindern. In kleinen Szenen und alltäglichen Situationen macht Leupold das Leben der Mutter sichtbar, ihren verstörten, versteinerten Gefühlshaushalt und die daraus resultierende fremde Nähe zwischen Mutter und Tochter. Daneben die große Leerstelle in diesem Buch, der der Mutter "zwei Jahre vor meiner Geburt überstürzt hinzugefügte Mann". Der Vater, dem Leupold in dem Roman Nach den Kriegen (2004) ein eigenes Buch gewidmet hat, firmiert auf diesen Seiten als "der Hausherr, dein Mann".

Was der Krieg in den Körpern der Eltern angerichtet hat, spricht seine eigene Sprache. Neben den psychisch und physisch schwerbeschädigten Vätern dieser Generation haben auch die Mütter das deutsche Schweigegelübde in die Symptomsprache übersetzt: Kreuzschmerzen, versteifte Nackenwirbel vom vielen Ducken und stumme Tränen, die die Tochter als reine Erpressung erlebt. "Nichts darfst du ungestört, geradeheraus wollen", Flüchtlingsfrau, mit "Füßen, die den Boden verloren hatten und das Auftreten verlernt".

Das wäre in seiner Trostlosigkeit schwer auszuhalten, gäbe es nicht die versprengten Wärmeinseln: eine Erinnerung an den Duft der Mutter, an die Einschlaflieder im Dunkeln, seltene Versprechen auf Residuen einer Geborgenheit, die in den altmodischen Speisen und vererbten Rezepten überwintert hat. Auch gibt es komische Einlagen, etwa wenn Pucki, der Wellensittich, den pflichtschuldig eingeladenen Besuch laut "Tschüssi! Tschüssi!" kreischend hinauszukomplimentieren versucht. Die dazu servierten Häppchen – bröckelnde Pumpernickel-Kreationen mit turmhoch aufgeschichteten Käsewürfeln und einer verlässlich auf den Teppich kullernden Kunstkirsche – halten kleine Plastikspieße und -dolche zusammen. Waffenstarrende Genrebilder aus dem bundesdeutschen Mittelschichtswohnzimmer der Sechzigerjahre.

Muttermale trägt den Charakter einer Recherche. Das Prozessuale des Erinnerns und Verifizierens bildet Leupold mit ab. Sie reist an verschiedene Orte, horcht den überlieferten Sätzen und eingeübten Redensarten nach und hebt den Bodensatz der verschütteten Sehnsucht nach dem "Land der dunklen Wälder" ebenso wie den des verdrucksten Ressentiments gegenüber der Gegenwart. Bildbeschreibungen, "Lichtspiele" überschrieben, werfen Schlaglichter auf das frühere Leben der Mutter: der gefallene Bruder, der erste Verlobte, gleichfalls ein Kriegstoter, und noch ein gefallener Bruder. Überlebt hat nur der jüngste, 17-jährig, ganz am Schluss als Kanonenfutter an die Front abkommandiert.

Allem voran aber besticht Muttermale durch seine präzise Form – wie Bernstein goldgelb schimmernd, glasklar und steinhart poliert. Kein Wort ist hier fehl am Platz, keines abgegriffen oder überflüssig. Der Überlebenskampf, den das in seiner ewigen Winterstarre eingeschlossene Wesen, in dem man getrost Mutter und Tochter erkennen darf, geführt haben muss, wird in diesem bei aller Strenge wahrnehmungsoffenen Roman in eine vom Schweigen geschliffene Sprache befreit.

Dagmar Leupold: Muttermale. Roman; Jung und Jung, Salzburg 2025; 176 S., 24,– €