Ein Schocker, einer zum Niederknien
Das Stück ist ein Knaller, bis heute, und an der Mailänder Scala knallt es gleich noch einmal so laut: Ehebruch, Mord, Vergewaltigung, Verbannung, Eifersucht und eine der brünstigsten Liebes-Kantilenen der Musikgeschichte, ein Lustschrei mehr, der Liebe will, Leidenschaft, Nähe, Hoffnung, Zukunft, "Ah, Sergej!" – gegen diesen tollwütigen, schwefelgelben, gallenbitteren Cocktail aus klingenden Emotionen dürfte kaum etwas gewachsen sein, das eigene Leben schon gar nicht, aber auch keine Netflix-Serie. Man muss sich dem einfach ergeben.
Die Rede ist von Dmitri Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk, ein Dreißigerjahre-Schocker. Ganze drei Inszenierungen hat es davon an der Scala bislang gegeben (1964, 1992, 2007), und wenn ihr scheidender Generalmusikdirektor Riccardo Chailly nun die 437. Saison eines der berühmtesten Opernhäuser der Welt mit Schostakowitsch eröffnet, ist das ein starkes Signal. In Richtung Publikum als Erweiterung des Kernrepertoires jenseits der längst zu Tode geliebten Hausgötter Verdi, Puccini, Bellini – wie in Richtung Kulturpolitik, schließlich können gerade sogenannte Wagnisse Erfolge bedeuten, nicht zuletzt, weil die Zuschauer ein anderes Erwartungsmanagement betreiben. Kein einziges Buh nach fast vier Stunden, nicht einmal für die Regie, das muss man am 7. Dezember, dem Tag des Heiligen Ambrosius, des Mailänder Stadtpatrons, erst einmal schaffen.
Draußen vor den Türen gab's wieder sehr früh sehr viel Polizei, weiträumigste Absperrungen – und ganz hinten auf der Piazza della Scala versprengte Proteste: gegen die Gaza-Politik der italienischen Regierung, gegen das Sparen in der Kultur. Früher ging's da heißer her, als die Gewerkschaften Barrikaden errichteten und Tierschützer die Pelzträgerinnen im Publikum direkt ins Visier nahmen. Offenbar verlagern sich die Gewichte. Je friedfertiger draußen, desto aufregender drinnen? Der Kunst in Italien wäre es zu wünschen. Und dass die Prominentendichte 2025 viele Eingeweihte enttäuschte, mehr Richtung B ging oder gar C, war gewiss bedauerlich, aber zu verschmerzen.
Kaum war die italienische Nationalhymne verklungen (die wird zur Scala-Eröffnung immer als Erstes gespielt, mitgesungen wurde allerdings schon beherzter), ging es los. Vorhang auf und rein ins Geschehen um die sich in ihrem Dasein so unerhört langweilende Kaufmannsgattin Katerina Ismailowa, wie man sich nur in der russischen Provinz in seinem Dasein langweilen kann, bei Tschechow oder bei Nikolai Leskow, der die literarische Vorlage für Schostakowitschs Oper lieferte. Katerina ist jung und schön und wird zur Mörderin (Schwiegervater, Ehemann, Nebenbuhlerin), weil die Gesellschaft ihrem Freiheitsdrang und ihrer Glückssuche so dermaßen im Wege steht, dass sie sich nicht anders zu helfen weiß (was allenfalls eine halbe Entschuldigung ist). Und natürlich auch, weil eine Untat weitere Untaten erzeugt. Shakespeare lässt grüßen.
Am Ende, nachdem ihr Geliebter Sergej sie hintergangen und verlacht hat, sucht Katerina selbst den Tod. Bei Leskow/Schostakowitsch ertränkt sie sich, bei Vasily Barkhatov, dem Regisseur der Mailänder Neuinszenierung, übergießt sie sich mit Benzin und steckt sich in Brand, und zwar so, dass Sergejs neue Freundin Sonetska gleich mit verkokelt. Ein irrer Effekt ist das, wie plötzlich zwei menschliche Fackeln über die Scala-Bühne rennen. Es qualmt und stinkt und wird bis in die hinteren Reihen des Parketts heiß; man überlegt sofort, was bei einer solchen Aktion alles schiefgehen könnte. Feuer statt Wasser, dieser Todesarten-Wechsel besagt allerdings auch: Ein stilles Nymphen-Sterben, wie es zuletzt der polnische Regisseur Krzysztof Warlikowski in Paris in Szene gesetzt hatte, passt nicht zu dieser Frau. Dazu hat sie zu sehr gelitten, sich zu sehr verkämpft und verrannt.
Barkhatov, 44, ist gebürtiger Russe und arbeitet seit rund zehn Jahren nicht mehr in seiner Heimat, im Gegensatz zu einigen Sängern, die auch in St. Petersburg noch Engagements haben, worüber sich in Mailand niemand aufregte. Die neue Scala-Inszenierung siedelt Schostakowitschs Lady Macbeth in ihrer Entstehungszeit an, in den frühen Dreißigerjahren also, in einer Art Grand Hotel. Vier Akte lang blickt man in den Art-Deco-Speisesaal dieses Etablissements, oder, wenn die Bühne sich dreht, in dessen Küche und Vorratskammer (Bühne: Zinovy Margolin). Das ist zwar stimmig, auf Dauer ästhetisch aber etwas eintönig, zumal russische Regisseure in letzter Zeit gerne genau diese Art symbolischer Russland-Bilder entwerfen, streng, muffig, mehr oder weniger offen despotisch. Und nicht nur sie.
Barkhatovs ebenso dezenter wie harmloser Trick besteht nun darin, die Story als Spiel im Spiel zu erzählen, als Aufarbeitung eines Kriminalfalls. Die Regie blendet immer wieder vor und zurück, zwischen einer Verhörsituation vorn an der Rampe und dem Geschehen auf der Bühne. Dieses Brechen der Handlung sorgt einerseits dafür, dass die Figuren nicht im sowjetischen Realismus des Raums gefangen bleiben und erstarren; andererseits folgt es Schostakowitschs antirealistischer, die grellsten Fratzen ziehender, der Groteske huldigender Musik.
Es werden an diesem Abend also zwar immer noch viele Hosenställe geöffnet und Beine breit gemacht, unfreiwillig wie freiwillig – was übrigens Väterchen Stalin 1936 nach einem Besuch des Bolschoi-Theaters dazu brachte, das Stück absetzen zu lassen, woraufhin der Komponist eine moralisch-erotisch abgemilderte Version anfertigte. Jubelchöre marschieren auf und ab, es wird gesoffen, Muskeln glänzen, Messer blitzen, Leichen stapeln sich. Wörtlich aber nimmt das hoffentlich niemand. Alles wirkt zitiert, selbst die berüchtigte Beischlafszene im ersten Akt (wobei Beischlafszenen in der Oper immer wie Zitate wirken). Als der tote Ehemann nach der zweiten Pause aus der riesigen Torte grüßt, mit der Katerina und Sergej Hochzeit feiern wollen, verheißt das endgültig nichts Gutes. Das Leben, ein Wahnbild, ein Alpdruck.
Das wahre Ereignis der diesjährigen Scala-Eröffnung aber ist die Musik. Das gilt für die US-Amerikanerin Sara Jakubiak in der Titelpartie, die ihren dramatischen Sopran von Anfang an in einen leicht verschatteten, gutturalen, anrührenden Trauerton tauchte, als wüsste die Stimme früher um ihr Ende als die Figur. Und es gilt vor allem für Riccardo Chailly und das Scala-Orchester. Das präsentierte sich in Topform, und wie der 72-jährige Dirigent Schostakowitschs kompositorisches Hakenschlagen antizipierte und auskostete, mit welcher Souveränität, ja italianità er die Klangmassen umstandslos vom rhythmischen Hexensabbat in die tiefste lyrische Depression führte, vom lasziv walzernden Dreivierteltakt in den wummernden Orchesterorgasmus, und zwar so, dass sich beides treu bleibt – das verdient tiefste Bewunderung. Niederknien aber möchte man vor Schostakowitsch, vor der Unbestechlichkeit seines Blicks und seines Ohrs, vor seinen Instrumentationskünsten. In dieser Partitur orgelt und schlagwerkt es wie in einem Hochofen, die Funken sprühen, Flammen züngeln, Hitzewellen wabern. Kurz stellt man sich den Komponisten und den Dirigenten als Stahlkocher vor, ein Bollwerk errichtend, um die Welt vor sich selbst zu retten. Dann brandet der Schlussapplaus auf, und die Mailänder Nacht hüllt einen in Kühle und Traurigkeit.