Leipziger Buchpreis für Miljenko Jergović: Wenn die Glücksunterhosen nicht mehr passen

Es wirkt immer ein bisschen dürr und sich an eine unbedingte Aktualität anbiedernd, im Fall eines Literaturpreises zumal, wenn die Jury des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung verkündet, ein Autor oder eine Autorin bekomme diesen Preis für ein bestimmtes Buch verliehen. So erhält auch der 1966 in Sarajewo geborene und in Zagreb lebende Schriftsteller Miljenko Jergović den Europäischen Verständigungspreis 2026 ausdrücklich für seinen Erzählband „Das verrückte Herz. Sarajevo Marlboro Remastered“.

Die Bruchlinien der Geschichte des Balkans

Doch wie bei so vielen anderen vor ihm ist es bei Jergović nicht zuletzt das gesamte Werk, das ihn preiswürdig macht. Was die Jury in ihrer Begründung immerhin gleich auch erwähnt, „taste“ Jergović doch „in seinem erzählerischen Werk mit großer Unbeirrbarkeit die Bruchlinien der Geschichte des Balkans ab. Ob in weit ausgreifenden Familienpanoramen, schrägen Roadmovies oder einem nachdenklichen Vaterporträt, stets bilden Kriegserfahrungen den Kern.“

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Tatsächlich rahmt der Preis für Jergović und seinen neuen Erzählband dessen Werk, wurde er nach drei Gedichtbänden 1994 mit genau den Erzählungen einem größeren Publikum auch außerhalb Kroatiens bekannt, die er jetzt gewissermaßen neu aufgelegt hat: „Sarajewo Marlboro“ erschien 1996 das erste Mal auf Deutsch im österreichischen Folio Verlag und dann ein weiteres Mal 2009 in einer neuen Übersetzung im Schöffling Verlag.

Leipziger Buchpreis

Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung wird seit 1994 an Autorinnen und Autoren verliehen, die sich um die Verständigung in Europa verdient gemacht haben, insbesondere um Ostmitteleuropa. Er ist mit 20.000 Euro dotiert.

Miljenko Jergović bekommt den Preis zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse am 18. März 2026 im Gewandhaus zu Leipzig verliehen. Die Laudatio hält die serbisch-österreichische Schriftstellerin Barbi Marković. 

Jergović, der 1993 Sarajewo verlassen hat, erzählt darin in kurzen Sequenzen, oft nur auf vier oder fünf Seiten, vom Krieg im ehemaligen Jugoslawien und was dieser für die unterschiedlichsten, in Sarajewo lebenden Menschen bedeutet, ob das nun ein Totengräber, ein ehemaliger Boxer, eine somnabul veranlagte Frau oder ein zwölfjähriger Junge ist.

Erzählen als Rettungsanker

Miljenko Jergović priorisiert in seinen Geschichten die Details, die Nichtigkeiten, die das aber nur an ihrer Oberfläche sind, das Randständige, das, was die komplizierte jugoslawische Geschichte eben auch ausmacht, die einzelnen mal gemeinsamen, mal getrennten Nationalgeschichten der jeweiligen Ethnien. Immer wieder denkt er dabei auch über die Macht der Sprache nach, reflektiert er, was Wahrheit und Lüge ist, Bericht und Erfindung. Es geht ihm ums Erzählen als Rettungsanker, so wie es sein Totengräber einmal sagt: „Die Welt verschwindet mit den nicht ausgesprochenen Worten.“

„Das verrückte Herz“ ist jetzt eine Art Fortsetzung dieser Erzählungen, mit anderen Protagonisten, aber genauso komponiert, mit kurzen Geschichten zum Beispiel über den serbischen Metzger Savo, der vor allem Schweinefleisch verkauft und von muslimischen Soldaten in den Selbstmord getrieben wird. Oder über einen jungen Mann, der seine „Glückunterhosen“ nicht mehr anziehen kann. Oder über einen gewissen Pašić, der zum Major eines serbischen Mörderbataillons wird, aber von dem Erzähler immer noch als derselbe freundliche und zugewandte Mensch porträtiert wird, der er vor dem Krieg war.

Er nehme die „Verheerungen der Gesellschaft in den Blick“, so die Jury, die Versehrungen der Individuen, und genau das hat Jergović auch in seinen Romanen getan, in „Buick Rivera“, „Das Walnusshaus“, „Der rote Jaguar“ oder auch in seinem 2010 veröffentlichten Buch über den Vater. Dieser, ein bosnischer Kroate, kämpfte im Zweiten Weltkrieg als Partisan gegen die faschistische kroatische Ustascha (und wurde von seiner Mutter deshalb beinahe dem Tod übergeben wurde), arbeitete später als Leukämie-Spezialist und Arzt im Krankenhaus von Sarajewo und starb in Sarajewo.

Miljenko Jergović erzählt in all seinen Büchern von den Schwierigkeiten, Komplexitäten und Verwirrungen einer multiethnischen, multikulturellen Gesellschaft, von den Gefahren des Nationalismus, und immer wieder ist darin der Versuch spürbar, sich ästhetisch und mit den Mitteln der Literatur dagegen zur Wehr zu setzen.

Vor dem Hintergrund dessen, was in Europa gerade passiert, und dass der Jugoslawienkrieg, der Europa schon vor Jahrzehnten in eine existenzielle Krise gestürzt hat, doch etwas in Vergessenheit geraten ist, hat die Jury des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung mit Miljenko Jergović eine sehr gute Wahl getroffen.