Ein Name wie ein Gesicht
DIE ZEIT: Ihr Debütroman heißt Wo der Name wohnt, und der Name, um den es geht, lautet "Levitanus". Das ist der mütterliche Familienname der Ich-Erzählerin, die jetzt auch so heißen will. Warum?
Ricarda Messner: Ich wollte versuchen, meine eigene Familiengeschichte entlang ihrer Wege und Bewegungen zu erzählen. Und dazu gehört die Sehnsucht nach dem Namen Levitanus. Mit dem Tod meiner Großmutter wurde mir klar, dass sie die Letzte sein würde, die diesen Namen trug. Ich habe um den Namen wie um ein Gesicht getrauert, deshalb wollte ich ihn annehmen.
ZEIT: Der Briefwechsel mit den Berliner Behörden, die Ihren Antrag ablehnend bescheiden, zieht sich durch den Roman. Der bloße "Herzenswunsch", einen anderen Familiennamen zu führen, stelle grundsätzlich keinen wichtigen Grund für eine Namensänderung dar, heißt es da zum Beispiel.
Messner: Solche Zitate habe ich am Ende auf für sich stehende Seiten gesetzt. So wurden diese Geschichten auch zu Geschichten gegen die Ablehnung.
ZEIT: Ihre Mutter kam im Jahr 1971 mit Ihren Großeltern aus Lettland in die Bundesrepublik. Die Ausgangssituation im Roman ist folgende: Es gibt zwei Häuser in einer Straße in Berlin, Nr. 36 und Nr. 37. In dem einen Haus sind Sie mit Ihrer Mutter aufgewachsen, nebenan wohnten Ihre Großeltern, und als die Wohnung Ihrer Kindheit vor einigen Jahren wieder frei wurde, sind Sie dorthin zurückgezogen, in die Nachbarschaft Ihrer Großmutter. Warum beginnen Sie mit diesen beiden Häusern?
Messner: Anfangs habe ich versucht, linear zu erzählen, bin an dieser Form der Chronik aber gescheitert, ich merkte, wie ich dieser historischen Perspektive misstraue. Irgendwann habe ich verstanden, dass ich mich aus der unmittelbaren Nähe nähern will, aus unserem Miteinander samt all seinen Entfernungen, Abständen, Lücken. Dadurch entstand eine Überlagerung von Zeiten. Mich interessiert, wo und wie das Gestern im Heute auftaucht und umgekehrt. Und als zentrale Frage: wie mit den Toten, nicht über sie erzählen? Wie wird aus dem Ich ein Wir? Ich wollte die Toten zu Miterzählenden machen. Hier, wo ich noch wohne, höre ich sie am lautesten, von hier konnten sie mich an die Hand nehmen.
ZEIT: Sie beschreiben, wie Sie als 15-Jährige Dokumente entdecken, die belegen, dass der Großteil der Familie Ihres Großvaters von der deutschen und lettischen SS in Riga ermordet wurde. Das ist der dunkle Kern des Buchs.
Messner: Da mein Großvater nie darüber gesprochen hat, war diese Entdeckung mit 15 Jahren wie eine erste Begegnung mit diesen Toten. Mich hat, abgesehen von der Gewalt, die verwaltende Sprache dieser Dokumente geprägt. Die Zeugenaussagen sind notariell beglaubigt, am Ende steht immer: "Ich versichere die Richtigkeit meiner vorstehenden Angaben." Im Buch gab es für mich keine andere Möglichkeit, als diese Zeugen selbst sprechen zu lassen. Mein Erzähl-Ich schafft Raum für Stimmen, für die ich als Autorin nicht sprechen sollte. Passagenweise besteht das Buch aus Transkriptionen und Übersetzungen. Diese Mehrsprachigkeit interessiert mich auch, wenn man über Sprachen redet.
ZEIT: Sie nähern sich diesen Morden in einer vorsichtigen, kreisenden Bewegung. Am Anfang stehen Gegenstände, die Sie bei der Wohnungsauflösung mitnehmen: ein schwarzer Kochtopf, die Musikkassetten Ihres Großvaters ...
Messner: Ich würde nicht von Vorsicht sprechen. Ich beobachte, wie Erinnerung funktioniert. Wann diese Dokumente beim Schreiben auftauchen, war für mich selbst eine Überraschung – es gibt kein Zentrum, keinen Plot oder ein Streben nach einer inhaltlichen Auflösung oder gar Erlösung. Außerdem hat auch eine Wohnungsauflösung etwas Brutales: In diesem Moment entscheiden wir, was von einem Menschen bleibt. Das sehe ich als Parallele zum Erzählen. Oft höre ich, das Buch sei zärtlich. Für mich war das Aufschreiben aber ein brutaler, mächtiger Akt. Nach und mit welchem Recht gebe ich all das hier wieder? Was ist meine Erzählgerechtigkeit?
ZEIT: Sie waren mehrmals in Lettland, mit Ihren Großeltern, mit Ihrer Mutter.
Messner: Aber die Sprachen des Ortes sind mit mir verloren gegangen. Ich kenne nur noch Zeilen eines lettischen Kinderliedes, mein Russisch ist schlicht. Wodurch ich bei den Reisen indessen gelernt habe, ist die Sprache der Körper. Wie meine Mutter sich durch die Straßen Rigas bewegt, wo sie stehen bleibt, wo sie hinschaut, das hat meine Erzählhaltung geprägt. Ich beobachte, ich höre zu, und wie beim Namen gilt: Die Geschichten sind mir voraus; ich laufe ihnen immer hinterher.
Ricarda Messner: Wo der Name wohnt. Roman; Suhrkamp, Berlin 2025; 170 S., 23,– €, als E-Book 19,99 €