Zwischen Himmel und Erde

Georg Bätzing ist seit 2016 Bischof von Limburg und außerdem seit 2020 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz.

Die Lichtkegel der Aufmerksamkeit beleuchten an Weihnachten eine Zeit, die lange zurückliegt, und einen winzigen Ort, gelegen am Rande der Welt: Bethlehem im Jahr der Zeitenwende. Das erinnert mich an den Vorspann mancher Blockbuster, die im wahrsten Sinn des Wortes mit einer universellen Perspektive beginnen: Aus den Weiten des Weltalls zoomt man immer näher heran; erst Sternennebel und Galaxien, dann unser Sonnensystem, in dem der blaue Planet als unsere Heimat auftaucht, Kontinente und Meere, immer näher, immer detaillierter zeigen sich Orte, Zeitpunkt, Umstände und die handelnden Personen. Erst dann beginnt die Story.

In zwei Richtungen regt mich das zum Nachdenken an. Was mich bewegt, woran mein Herz hängt, die Sorgen des Alltags und all unsere Mühen und Plagen, unser Hoffen und Bangen, was wir bauen und gestalten und woran wir uns erfreuen; im Vergleich zur großen Perspektive des Universums ist das alles winzig. Jetzt, in diesen festlichen Tagen, wo die Welt der Geschäfte und politischen Reibereien hoffentlich einmal Atem holt und zur Ruhe kommt, rast die Erde mit einer Geschwindigkeit von 30 Kilometern pro Sekunde auf ihrer Bahn um die Sonne. Und wir als Bewohner dieser Erde, klein und gefährdet – und gerade deshalb ein Wunder, ein unergründliches Wunder.

Und ein zweiter Gedanke legt sich mir nahe, wenn ich von der großen Perspektive auf die Wirklichkeit unseres Lebens blicke: Alles hängt doch irgendwie mit allem zusammen. Weniger als nichts bedeute es, wenn in China ein Sack Reis umfällt, so will uns das geflügelte Wort einreden; dabei wissen wir mittlerweile, dass sich alles uns bekannte Leben der für sich allein betrachtet wenig bedeutsamen Umstellung des Stoffwechsels von Mikroben auf die sauerstoffproduzierende Fotosynthese verdankt. Dadurch veränderte sich die gesamte Erdatmosphäre und komplexeres Leben konnte sich entwickeln. 

Georg Bätzing, hier fotografiert in Limburg © Nói Crew

Und weil ich von großen Zusammenhängen überzeugt bin und von der Bedeutung selbst kleinster Schritte, mutiger Entscheidungen und beherzten gemeinsamen Handelns, darum sehe ich all die um sich greifenden Tendenzen der Abschottung heutzutage so kritisch. Für mich verfangen sie nicht, ich erschrecke davor. Wohin führt denn am Ende der neue egoistische Nationalismus mit seiner Parole des "Wir zuerst"? Und glauben wir ernsthaft, wir könnten Demokratie und Zusammenhalt hierzulande stärken, ohne unseren Sozialstaat zukunftsfähig zu machen, der darauf basiert, dass die Generationen füreinander einstehen und die Gesunden für die Kranken, die Starken für die Schwachen, weil wir uns als eine große solidarische Gemeinschaft verstehen? Wir werden auch unser freies, selbstbestimmtes Leben nicht sichern, wenn wir nicht zugleich für das Lebensrecht der besonders Verletzlichen in jeder Hinsicht eintreten. Und wir versündigen uns an den Lebenschancen künftiger Generationen, wenn wir nicht jetzt den Herausforderungen des Klimawandels mit großer Konsequenz und persönlicher Veränderungsbereitschaft begegnen. Denn wir hier und jetzt sind Teil des "großen Ganzen". Das prägt uns, und wir sind jetzt mitverantwortlich dafür.

Das ist doch das Große dieser Tage: Wir sind davon überzeugt, Jesus hat alles zum Guten gewendet. Die Geburt dieses Kindes hat die Geschicke der Menschheit in neue Bahnen gelenkt. Dieser eine Zeitpunkt – unbemerkt von den Einflussreichen damals – hat eine heilsame Dynamik in der Welt ausgelöst. Unsere biblischen Weihnachtserzählungen kleiden sie in Bilder: ein Licht in der Nacht; Himmel und Menschen unterwegs; große Freude in ärmlichen Verhältnissen; ein wehrloses Kind als echte Alternative zu den Muskelspielen der Mächtigen. Gott verließ seinen Himmel und sprang in den Staub dieser Erde, er kam zu uns herunter. Das Wort, durch das alles geworden ist, weil es von Liebe getragen reiches Leben erschafft, das göttliche Wort wurde ein Mensch wie wir – mit unendlicher Würde, einem brennenden Herzen voll großer Hoffnung und auch mit den ermüdenden Grenzerfahrungen, die keinem Menschen erspart bleiben. 

Gott, bedürftig und angewiesen wie ein Kind

"Er war Gott gleich", so heißt es in dem uralten Lied, das Paulus im Philipperbrief zitiert (Phil 2, 6–7), "hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen." Ich gebe zu, dieser Gedanke hat mich persönlich schon immer fasziniert und mich überzeugt, zu glauben. Der Gott, zu dem sich Christinnen und Christen bekennen, ist so frei, sich aller göttlichen Macht zu entäußern, sich leerzumachen, bedürftig und angewiesen wie ein Kind, um so in sich einen unendlich großen Freiraum zu schaffen für echte Aufmerksamkeit, wahre Freundschaft und großzügiges Erbarmen. Das alles hat Jesus gelebt und geliebt und auf diese Weise die Anfälligkeit für Neid und Gier und Gefühllosigkeit geheilt, von der wir Menschen oft abgrundtief befangen sind. Jesus ist der neue Mensch, mit dem sich jeder Mensch verbinden kann, um sich auf das Abenteuer der Menschenfreundlichkeit einzulassen. In der Nacht von Bethlehem wurde der neue Mensch geboren. Mit ihm kann alles anders, kann alles gut werden.

Und wenn in dieser Welt nun einmal alles miteinander verwoben ist, wenn schon Erschütterungen und Fehlentscheidungen oder Fortschritte hin zum Guten an irgendeinem Ort dieser Erde und zu irgendeinem Zeitpunkt nachhaltige Wirkungen auf lange Sicht zur Folge haben, wie sehr gilt das erst recht für Weihnachten, dem Tag, an dem Gott sich mit uns Menschen verbündet hat. Dieses Ereignis wirkt und berührt die Menschen nun schon seit so langer Zeit, als wäre es heute. 

Und so ist es ja auch: Sind Sie innerlich bewegt, womöglich ergriffen, wenn Sie die uralte Weihnachtsgeschichte wieder hören von der Geburt im Stall, dem Kind in der Krippe, den Engeln und Hirten? Zieht es Sie auch hin zu den liebevoll gestalteten Krippendarstellungen in unseren Kirchen und Häusern – und wenn Sie davorstehen, kommt Ihnen dann ein Lächeln, vielleicht ein Strahlen übers Gesicht? Und die Lieder, die innig dazu einladen, dass wir mit dem Kind in der Krippe sprechen, ihm unser Herz ausschütten – weil Jesus aufmerksam ist, sozusagen Gottes offenes Ohr für uns: Das alles ist doch nicht nur erfreulich für Kinder. Mich berührt das jedes Jahr neu, und die unauslöschliche Sehnsucht klingt wieder an in mir, es möge Friede werden auf Erden, Wohlergehen für alle Menschen, Zuversicht für die Enttäuschten, Gerechtigkeit für die Benachteiligten. Die Tapferen mögen Mut bewahren, die Kranken und Bedrückten mögen wieder aufleben und sich freuen – und Gott möge alle Ehre gegeben werden.

Was für Menschen braucht es eigentlich, damit die heilsame Dynamik von Weihnachten weitergeht und um sich greift? Darüber hat sich der Jesuit Alfred Delp (1907–1945) Gedanken gemacht, wenige Wochen, bevor er von den Nazis ermordet wurde. In einer Betrachtung zu den Gestalten der Weihnachtsgeschichte kommt er auch auf die Hirten zu sprechen und meint, es sei Nebensache, dass es gerade Hirten waren. "Es geht hier um den Typ. […] Es mussten Menschen sein, deren Seele noch warm wurde bei der Erinnerung an die alten Verheißungen. Deren Leben also noch weite Horizonte hatte und auch diese waren noch durchbrochen und ließen das ganz andere Licht in hundert Ahnungen und Vorboten einströmen. Es mussten Menschen sein noch des Wunders fähig" (Alfred Delp). Ich bin überzeugt, solche finden sich auch heute.