Eine Goldene Palme für die Freiheit

Es ist schon eine herbe Ironie, dass sich ausgerechnet die gestrengen Mullahs zur Goldenen Palme gratulieren können. Der Hauptpreis der Filmfestspiele von Cannes ging am Samstagabend an den iranischen Regisseur Jafar Panahi für seinen Film „A Simple Accident“ („Ein einfacher Unfall“). Wie er gerade der „Zeit“ erzählte, in seinem ersten Interview mit einem deutschsprachigen Medium seit 15 Jahren, verbüßte er seine letzte Gefängnisstrafe ausnahmsweise nicht in Einzelhaft, sondern in einer Art Regisseuren-WG mit dem Kollegen Mohammad Rasoulof („Die Saat des heiligen Feigenbaums“): „Wir haben viel geredet“, sagte Panahi, „aber vor allem hörten wir unseren Mitgefangenen zu, die viel mehr als wir zu erdulden hatten.“ Aus deren Erzählungen sei das Drehbuch zu „A Simple Accident“ entstanden.

Aus dem Gefängnis direkt nach Cannes und da dann die Goldene Palme: Das hätte ja wirklich nicht besser laufen können für die PR-Abteilung der Revolutionsgarde.

Im Film, der gegen Ende der Filmfestspiele im Laufe der zweiten Woche zu sehen war, geht es um ein paar einfache Bürger, die sich meist nicht einmal kennen. Der Zufall würfelt sie zusammen und konfrontiert sie mit einem moralischen Dilemma: Was würdest du tun, wenn dein furchtbarster Folterknecht, der dir für Lappalien wie die Teilnahme an einer Demo oder den Verzicht auf ein Kopftuch entsetzliche Dinge angetan hat, dir Schmerzen zugefügt und Angehörigen mit dem Tod gedroht, wenn dieser Folterknecht bewusstlos im Laderaum eines Kleinlasters läge, und niemand sonst wüsste davon?

Dieser Frage vorausgegangen ist schon eine Antwort, und die war klar und unmissverständlich: Der Erste, der ihn entdeckt, ein Arbeiter, haut ihm die Tür des besagten Lasters ins Gesicht, sackt den Bewusstlosen ein und fährt hinaus in die Wüste, um ihn dort lebendig zu begraben. Er mache einen schrecklichen Fehler, fleht ihn der Gefesselte aus seiner frisch ausgehobenen Grube hustend an, schon Sand zwischen den Zähnen. Er sei nicht der, für den man ihn halte, und überdies Familienvater.

Der Arbeiter, der sich sicher ist, den Richtigen vor sich zu haben, raucht erst mal eine Zigarette, zum Nachdenken. Die Beinprothese, das Geräusch, das sie macht – nie im Leben wird er es vergessen. „Nein“, krächzt der quasi standrechtlich zum Tode Verurteilte, die Verletzung sei neu, die Wunde noch frisch. Tatsächlich gibt es wunde Stellen. So zieht der Mechaniker los, andere Zeugen finden, um die Identität zweifelsfrei zu bestätigen, den wieder bewusstlos Geschlagenen in einer Kiste hinten im Auto.

Das ist die Versuchsanordnung von „A Simple Accident“. Der Titel spielt auf den Unfall an, den die Familie des vermeintlichen Folterers am Anfang hat. Eines Nachts auf dem Heimweg überfährt der Vater einen streunenden Hund. Darauf springt der Wagen nicht an, man hält an einer Art Werkstatt, schwer zu sagen, worum es sich handelt, im ersten Stock ist ein Taubenverschlag. Dort erkennt der Arbeiter seinen einstigen Widersacher wieder.

Bei der Ehrung in Cannes trat Panahi in schwarzem Anzug mit Sonnenbrille auf die Bühne, als wolle er Jean-Luc Godard seine Reverenz erweisen – Richard Linklaters bittersüße Hommage an die Nouvelle Vague war ja leider leer ausgegangen. Panahi dankte seinem „engagierten Team“, ohne das der Film nicht hätte entstehen können. Das sagen sie natürlich alle hier, aber nicht alle stehen unter geheimdienstlicher Beobachtung und haben Drehverbot. Nach seiner Haft erhielt Panahi immerhin seinen Reisepass zurück – aber wieso ihn die Revolutionswächter nach Cannes reisen ließen, wo sein Film doch, dank des engagierten Teams, im Verborgenen entstanden ist, bleibt ein Geheimnis der Experten, die sich mit den absurden Regularien der Religionspolizei besser auskennen.

In seiner Rede rief Panahi die Iraner im In- und Ausland zur Einheit auf: Das dringliche Problem sei „die Freiheit unseres Landes“. Er ersehne den Augenblick, da niemand mehr vorschreibe, welche Kleidung man zu tragen habe, was man sagen, was tun dürfe. Großer Applaus, nicht direkt zehn oder fünfzehn Minuten lang, wie nach den Premieren hier im Grand Théâtre Lumière, aber dafür umso inniger.

Weil die Mittel des Filmemachers so beschränkt waren, darf man in „A Simple Accident“ keine besonderen visuellen Schmankerl erwarten. Im Vordergrund steht die Handlung, raffiniert und zwischendurch von absurder Komik, wie es bei Kunstwerken, die unter autoritären Regimen entstanden, ja lange Tradition ist, siehe den Ostblock in der entsprechenden Ära. Es war Panahis erster Auftritt in Cannes seit über 20 Jahren. In der Zwischenzeit hatte er alles erdulden müssen, mehrmals Haft, Reise- und Berufsverbot, Hausarrest. 2015 schmuggelten Freunde seinen ebenfalls heimlich entstandenen „Taxi Teheran“ zur Berlinale, wo er in Abwesenheit des Regisseurs, der den Iran nicht verlassen durfte, den Goldenen Bären bekam. Auch den neuen Film zeichnet eine politische Dringlichkeit aus wie keinen anderen Wettbewerber. Man darf das als Signal der Jury unter dem Vorsitz der Schauspielerin Juliette Binoche interpretieren.

Die Preise für die beste Regie und den besten Schauspieler fügen sich ins Bild, schlagen aber die Brücke zur Filmkunst im engeren Sinne, mit Betonung auf der zweiten Silbe. Sie gingen an „O Secreto Agente“ („Der Geheimagent“) des brasilianischen Regisseurs Kleber Mendonça Filho und seinen Hauptdarsteller Wagner Moura, bekannt als Drogenbaron Pablo Escobar in der Netflix-Serie „Narcos“, der der Preisverleihung nicht persönlich beiwohnte.

Der Geheimagent des Titels erweist sich als eine Cartoonfigur, die in einer flüchtigen Szene einmal kurz im Fernsehen läuft. Wagner Mouras Sohn sieht sie sich an, in der kurzen Zeit, die er gemeinsam mit seinem Vater verbringen darf. Der Wissenschaftler, den Moura spielt, hat sich Ende der Siebzigerjahre mit einem Mächtigen der Militärdiktatur angelegt und fürchtet nun um sein Leben. Auf der Flucht vor gedungenen Mördern landet er in Recife, wo nach dem Tod der Mutter auch sein Sohn bei den Großeltern lebt. Seine Hoffnungen auf ein neues Leben zerschlagen sich schnell.

In atemberaubender Panavision beschwört Mendonça Filho eine Ära hinauf, ähnlich wie im vergangenen Jahr Walter Salles in „Für immer hier“ (Oscar für den besten internationalen Film), aber diesmal ist der Fokus weiter. Es entsteht das Porträt eines ganzen Landes – inklusive einer Hommage an das Kino, also dessen Kathedrale: das Lichtspielhaus. Die weltweit größte Kathedrale des Kinos, sagte Mendonça Filho in seiner Dankesrede, sei aber natürlich Cannes.

Den Großen Preis der Jury nahm der norwegische Regisseur Joachim Trier entgegen, so bewegt, dass er anfangs kaum ein Wort herausbrachte. Er erinnerte an seinen Großvater, der schon 1960 einen Film im Wettbewerb präsentiert hatte. Sein Film „Sentimental Value“ mit Stellan Skarsgård und Renate Reinsve erzählt die Geschichte einer entfremdeten Familie, die nach dem Tod der Mutter wieder zueinander findet.

Weitere Preise gingen an Nadia Melliti als beste Schauspielerin für die queere Banlieue-Geschichte „La Petite Dernière“ und an die Gebrüder Dardenne für „Jeunes Mères“ (bestes Drehbuch), ein Sozialdrama um fünf Mütter, die selbst noch im Teenageralter sind.

Die deutsche Regisseurin Mascha Schilinski, der zuvor alles bis zum Hauptpreis zugetraut worden war, war extra nach Cannes zurückgereist, um den Preis der Jury entgegenzunehmen. Sie teilt ihn sich mit dem Franzosen Oliver Laxe („Sirat“). Wir haben zu Anfang der Filmfestspiele ausführlich mit Schilinski über ihren Film gesprochen. Deutsches Geld, privates und öffentliches, steckt auch in anderen Gewinnerfilmen: Triers Film wurde von Komplizen-Film koproduziert, und auch der Brasilianer ist eine deutsche Koproduktion. Beide sind zudem vom Medienboard Berlin-Brandenburg gefördert.

Zuletzt ging der Spezialpreis der Jury an „Resurrection“ des Chinesen Bi Gan, ein bildgewaltiges Ungetüm von einem Film, das nicht weniger unternimmt als eine Traumdeutung des chinesischen 20. Jahrhunderts.

So war mit den Auszeichnungen die ganze Palette abgedeckt – von raffiniertester Ästhetik bis zum unverhohlenen Freiheitskampf – mit einer soliden Mittelschicht dazwischen. Was sollen europäische Filmemacher, die nicht gerade gegen Unterdrückung kämpfen, da machen?

Die Antwort liegt auf der Hand: Berührende Geschichten erzählen, erfinderisch in den Mitteln, so wie Mascha Schilinski in ihrem zeitlichen Palimpsest, in dem sich die Traumata von Generationen am selben Ort, einem Vierseitenhof in der Altmark, ineinander verschlingen. Oder, wie Godard es einst dekretierte, aus der sicheren Deckung seiner Sonnenbrille: ein Mädchen und einen Revolver besorgen. Mehr braucht es fürs Kino nicht. Der Jahrgang 2025, der 78. der Filmfestspiele von Cannes, war, trotz einiger Unwetter, die über der Croisette niedergingen, ein guter.