Zehn Tage voller Power
"Das Wichtigste ist unser Land und die Freiheit unseres Landes. Ich wünsche allen Iranern und Iranerinnen, die sich für die Demokratie schlagen, egal woran sie glauben und wo sie sich gerade befinden, dass wir gemeinsam eine Zeit erleben werden, in der uns niemand mehr sagt, was wir anziehen sollen, was wir sagen sollen, was wir nicht tun sollen." Das sagte der iranische Regisseur Jafar Panahi in seiner Rede als Gewinner der Goldenen Palme des 78. Festival de Cannes. Sein Film It was just an accident (Ein einfacher Unfall) ist eine Auseinandersetzung mit seinen eigenen Gefängniserfahrungen und der Gewalt des Regimes.
Sein Held Vahid, ein Arbeiter, begegnet durch Zufall dem Mann, der ihn im Gefängnis gequält hat. Er entführt ihn mit seinem Lieferwagen. Um sicherzugehen, dass es sich wirklich um seinen Folterer handelt, kontaktiert er weitere Frauen und Männer, die mit ihm eingesperrt waren. Sie überlegen, was sie tun sollen: Rache üben und sich mit dem Regime gemein machen? Oder den mutmaßlichen Peiniger laufen lassen und das Risiko einer schweren Bestrafung eingehen?
Mit dieser Geschichte wirft Panahi die große Frage auf, was uns zum Menschen macht. Der Film wird zum Roadmovie und führt hinein in den Alltag, die Stimmung, die Verfasstheit der iranischen Gesellschaft. It was just an accident ist ein mutiger Film, eine Erzählung von enormer politischer Wucht, aber dennoch lässt sich die Entscheidung der Jury unter Vorsitz der Schauspielerin Juliette Binoche nicht auf ein politisches Statement reduzieren. Der Film hat einen spannungsvollen, wie getriebenen Rhythmus, die improvisiert wirkenden Diskussionen im Lieferwagen sind von enormer Präzision, die Bilder erzählen immer mehr als das, was konkret verhandelt wird. Einmal sieht man Vahid in der Wüste in der Nähe von Teheran, das Grab für den Folterer ist bereits ausgehoben, daneben steht ein abgestorbener Baum. Plötzlich ist da eine Stimmung, die an Warten auf Godot erinnert, und der Mensch, der eben noch in Aktion war, wirkt klein, erschöpft und leer.
Mit der Goldenen Palme ist Jafar Panahi der vierte Regisseur (neben Henri-Georges Clouzot, Michelangelo Antonioni, Robert Altman), der alle Hauptpreise der drei wichtigsten Filmfestivals der Welt – Cannes, Venedig und Berlin – gewonnen hat. Über mehr als ein Vierteljahrhundert hinweg stellt dieser Filmemacher die Kamera an die Seite seiner Figuren, erzählt solidarisch, emphatisch, genau beobachtend vom Leben in der Repression. Im Jahr 2001 gewann er den Goldenen Löwen für seinen Film Der Kreis, einen Reigen über einen Tag im Leben von sechs jungen Frauen in Teheran, die sich gegen die absurden Vorschriften des Regimes wehren. Taxi Teheran (2015) drehte er wegen seines Berufsverbotes heimlich mit sich selbst in der Rolle des arbeitslosen Regisseurs und Taxifahrers Jafar Panahi – und widersetzte sich so der verordneten Unsichtbarkeit.
Die Goldene Palme dieser 78. Ausgabe des wichtigsten Filmfestivals der Welt steht für ein Kino, das etwas bewegen kann. Eine völlig andere Gangart legt der Gewinner der zweitwichtigsten Auszeichnung ein, sie ging an den Norweger Joachim Trier für seinen Film Sentimental Value (Großer Preis der Jury). Er geht hinein in die Neurosen und Verletzungen einer Familie in Oslo. Nach dem Tod ihrer Mutter sehen sich zwei Schwestern mit ihrem Vater, einem bekannten Regisseur (Stellan Skarsgård), konfrontiert. Nach Jahren steht er plötzlich in der Tür mit einem autobiografischen Drehbuch, geschrieben für die ältere Schwester, eine bekannte Theaterschauspielerin. Der Mann, der die Familie früh verlassen und seine Töchter kaum je wahrgenommen hat, versucht, diese nun mit seiner Kunst zu "sehen". Sentimental Value mag ein großer Ensemblefilm sein, doch die hier ausgestellte heilende Kraft des Kinos spricht den narzisstischen Vater allzu reibungslos frei.
Und nun die schöne Nachricht und kleine Enttäuschung: Der deutsche Wettbewerbsfilm In die Sonne schauen von Mascha Schilinski gewann den halben Preis der Jury (ex aequo mit Sirat von dem spanischen Regisseur Oliver Laxe). Das ist ein enormer Erfolg für die in Berlin lebende Regisseurin. Aber es ist zu wenig für diesen Film, dessen Bilder ab dem zweiten Tag des Festivals über allen anderen Bildern zu schweben schienen. Über ein Jahrhundert hinweg folgt Schilinski vier Frauen und Mädchen in einem Bauernhof in der Altmark. Deutsches Kaiserreich, Zweiter Weltkrieg, die Achtzigerjahre in der DDR, die Gegenwart – jede Zeit und Epoche bekommt ihre eigene Optik, ihr Licht, ihre sinnliche Textur. Es ist schlichtweg ergreifend, wie hier der Alltag der Mädchen, ihre Gewalterfahrungen und Adoleszenzgefühle durch Figuren hindurch fließend erzählt werden. Ihre Dankesrede widmete Mascha Schilinski den jungen Filmemachern und vor allem Filmemacherinnen, die trotz vieler Widerstände an ihre eigene künstlerische Vision glauben. Genau das hat sie selbst getan.
Auch das Festival de Cannes hat an die deutsche Newcomerin geglaubt. Das ist nicht selbstverständlich. Während der vergangenen Festivalausgaben hatte die künstlerische Leitung den Wettbewerb meist wie die Vitrine eines Juwelengeschäfts bespielt: Ausgelegt wurden die dicksten Klunker und bekanntesten Namen.
In diesem Jahr kam Bewegung in die Auswahl, mit Neuentdeckungen, jüngeren Filmemacherinnen und teils extremen Tonlagen. Nichts wäre leichter, als an dieser Stelle die Lebendigkeit und Erfindungskraft des Kinos zu feiern, seine Widerständigkeit, seine Lust, auf die Gegenwart loszugehen. Aber diese zehn Kinotage in Cannes hatten einfach eine enorme Power.