"Von flächendeckender Autorität kann keine Rede sein"

Herr Dukhan, vor genau einem halben Jahr fiel das Assad-Regime. Die Hoffnung vieler Menschen war groß, gleichzeitig aber auch die Sorge vor den neuen islamistischen Machthabern und dem heutigen Präsidenten Ahmed al-Scharaa. Wo steht Syrien mittlerweile?

Haian Dukhan: Ehrlich gesagt bin ich überrascht, wie positiv sich die Lage in Syrien entwickelt hat, trotz aller Herausforderungen und Rückschläge – etwa den Racheakten, die an der syrischen Küste, in Homs oder sogar in Damaskus stattfinden. Insgesamt ist die Lage recht stabil, verglichen etwa mit dem Irak nach dem Sturz Saddam Husseins.

Wie erklären Sie diese Stabilität?

Dukhan: Auf regionaler Ebene haben viele arabische Staaten ihre Beziehungen zu Syrien wieder aufgenommen: Die Golfstaaten haben Präsident Al-Scharaa eingeladen, Außenminister Asaad al-Schaibani ist trotz des angespannten Verhältnisses in den Irak gereist. Mit dem Libanon gab es Vereinbarungen zur Grenzfestlegung unter saudischer Vermittlung. Die USA und die EU haben viele Sanktionen aufgehoben. Katarische, französische und chinesische Unternehmen haben Verträge mit Syrien unterzeichnet, darunter im Energiesektor.

Syrer nach dem Gebet in einer zerstörten Moschee in Damaskus © Ed Ram/​Getty Images

Diese Entwicklungen wurden von Massakern an Alawiten und Drusen überschattet. Inwieweit ist es Al-Scharaas Regierung gelungen, die vielen bewaffneten Gruppen und Milizen unter Kontrolle zu bringen und in die syrische Armee zu integrieren?

Dukhan: Es gibt die berechtigte Sorge, dass Syrien ein ähnliches Schicksal drohen könnte wie Libyen. Dort ist es der Regierung nicht gelungen, die verschiedenen militärischen Gruppen zu integrieren.

Und in Syrien?

Dukhan: Die Regierung muss die Kontrolle über alle im Land operierenden Milizen behalten. Von flächendeckender Autorität kann keine Rede sein. Im Nordosten agiert das von der Türkei kontrollierte Bündnis Syrische Nationale Armee, kurz SNA. Sie ist für die Massaker an den Küstenregionen mitverantwortlich. Die EU verhängte deswegen Ende Mai Sanktionen gegen drei SNA-Milizen und zwei ihrer Anführer. Im Süden, in der Provinz Daraa, gelang es dagegen, die sogenannte Achte Brigade nach anfänglichem Widerstand in die syrische Armee zu integrieren.

Syrer an einem beleuchteten Kiosk in Rakka © Ed Ram/​Getty Images

Als besonders heikel gilt die Integration der Syrischen Demokratischen Kräfte – kurz SDF – im kurdisch dominierten Nordosten. Wird sie sich Damaskus unterordnen?

Dukhan: In den mehrheitlich von Arabern bewohnten Städten Rakka und Deir al-Sur fühlen sich die Menschen nicht von autoritärer Herrschaft befreit – sie stehen weiterhin unter einer Verwaltung, die sie als von den Kurden dominiert empfinden. Im März schloss die Übergangsregierung eine Vereinbarung, den militärischen und zivilen Flügel der SDF in staatliche Institutionen zu integrieren. Die kurdische Seite pocht jedoch darauf, zumindest einen Teil ihrer bisherigen Autonomie vor Ort zu bewahren, was die Regierung in Damaskus ablehnt.

Wer wird sich durchsetzen?

Dukhan: Niemand kann voraussagen, wie sich die Lage entwickelt. Klar ist: Die neue Regierung in Damaskus strebt die vollständige Kontrolle über den Nordosten Syriens an – dort befinden sich große Teile der Öl- und Gasfelder, die zum Wiederaufbau Syriens wichtig sind. Auf der anderen Seite fühlten sich die Kurden lange Zeit vom Assad-Regime marginalisiert. Daher sind sie der Ansicht, eine Form lokaler Autonomie zu brauchen, um ihre Rechte zu wahren. Wie dieser Konflikt zwischen beiden Seiten gelöst werden kann, bleibt abzuwarten. Diese Frage ist eine der beiden großen Herausforderungen für die Regierung.

Und die zweite?

Dukhan: Die Rolle der Drusen im Süden Syriens, die komplex ist. Innerhalb der drusischen Gemeinschaft in Suweida gibt es unterschiedliche Meinungen: Ein Teil fordert Autonomie, während andere offen für eine Integration in die neue syrische Armee sind. Unterdessen drängt die Regierung auf die Eingliederung bewaffneter Gruppen in die reguläre Armee – ein Schritt, der im Süden erhebliche Konflikte auslösen könnte. Wie diese Spannung zwischen den beiden Seiten beseitigt werden kann, ist ebenfalls offen.