Die ungeklärte Machtfrage
In den vergangenen vier Wochen sollen im Gazastreifen 549 Menschen beim Warten auf Hilfslieferungen getötet und mehr als 4.000 verletzt worden sein. Das berichtete die Zeitung Ha'aretz Ende vergangener Woche unter Berufung auf die von der Hamas kontrollierte Gesundheitsbehörde. Soldaten der israelischen Armee sollen auf Befehl scharf auf die Wartenden geschossen haben. Ein Soldat sagte Ha'aretz: "Wo ich stationiert war, wurden jeden Tag zwischen einem und fünf Menschen getötet. Sie wurden wie Feinde behandelt – keine Maßnahmen zur Kontrolle der Menschenmenge, kein Tränengas, nur scharfes Feuer."
Die Lage an den Verteilzentren verdeutlicht das Chaos im Gazastreifen. Niemand will dafür die Verantwortung übernehmen. Selbst die private US-Stiftung Humanitäre Stiftung Gaza (GHF) fordert infolge der Ha'aretz-Recherche Aufklärung von der israelischen Armee und den "sicheren Durchgang für Hilfssuchende". An diesem Chaos ändern auch die jüngsten Signale von Israels Premierminister Benjamin Netanjahu nichts, bereit für ein Kriegsende zu sein. Am Sonntagabend sagte er: "Es haben sich viele Möglichkeiten eröffnet: in erster Linie zur Rettung der Geiseln, aber auch für breitere regionale Perspektiven."
Netanjahus Äußerungen folgten unmittelbar auf die Forderung des US-Präsidenten Donald Trumps nach einem Waffenstillstand in Gaza. "MACHEN SIE DEN DEAL IN GAZA. HOLT DIE GEISELN ZURÜCK!!!" hatte Trump am Sonntagmorgen auf seinem sozialen Netzwerk Truth Social geschrieben. Trumps markige Worte erinnern an seinen verordneten Waffenstillstand zwischen Israel und dem Iran. Beobachtende in und außerhalb von Israel kritisierten, dass Waffenstillstandsabkommen eigentlich auf Verhandlungen und ausgearbeiteten Papieren basieren. Das Kriegsende zwischen Israel und dem Iran kam jedoch ohne jegliche Verhandlungen aus. Was passiert, wenn auch das Ende des Gazakriegs ohne verhandelten Plan erklärt wird?
Israels Armee signalisiert, den Gazakrieg bald beenden zu wollen
Die Situation an den Verteilzentren steht exemplarisch für Israels Vorgehen in Gaza seit Trumps Amtsantritt. Auf dessen Drängen hatten Netanjahu und die Hamas zunächst im Januar einer sechswöchigen Waffenruhe zugestimmt. Doch das Abkommen krankte daran, dass es die Frage ausklammerte, wie die Hamas ihrer eigenen Entmachtung zustimmen sollte. Genau das fordert Israel, während die den Gazastreifen kontrollierende Terrororganisation dies weiterhin ablehnt. Israel blockierte darauf ab März fast zwei Monate vollständig die Hilfslieferungen nach Gaza.
Offiziell sollte die Blockade die Hamas zur Kapitulation zwingen. Tatsächlich liefen in diesen zwei Monaten die Vorbereitungen für die von der GHF betriebenen Verteilzentren an, mit denen die von den Vereinten Nationen betriebenen Einrichtungen ersetzt werden sollen. Israel wirft den Vereinten Nationen vor, sich nicht ausreichend von der Hamas abgegrenzt und Mitglieder der Terrororganisation beschäftigt zu haben. Doch auch die Struktur und Finanzierung der GHF-Stiftung gilt als undurchsichtig.
Israelischen Berichten zufolge wurde die Verteilung über die GHF von der israelischen Regierung selbst initiiert. Während private US-Sicherheitsdienste die Zentren sichern, kontrollieren israelische Soldaten den Bereich rund um die Zentren – dort harren täglich Tausende Menschen stundenlang in der Hitze aus, um nicht zu verhungern. Nun signalisiert auch Israels Armee, den Krieg in Gaza zeitnah beenden zu wollen. Armeechef Eyal Zamir sagte am Freitag, die jüngste israelische Offensive werde "bald die von der Regierung definierten Grenzen" erreichen. Demnach kontrolliere Israel mittlerweile über drei Viertel des Gazastreifens.