Nach dem Angriff kam die Angst

"Hier", sagt Ulrike Meyer und zeigt mit dem Finger auf die gelbliche, leicht verschmutzte Wand. "Hier wurde der Stein hingeschmissen." Meyer ist Bewohnerin der Lebenshilfe Mönchengladbach, einem Wohnkomplex, in dem 30 Menschen mit geistiger Behinderung leben. Um wenige Zentimeter verfehlte der Ziegelstein das Fenster einer Bewohnerin. Ein zweiter Stein flog in das Gebäude der Verwaltung, 500 Meter Luftlinie entfernt, in der Nacht auf den 27. Mai 2024.

Wer die Steine geworfen hat, konnte nicht abschließend ermittelt werden. Die Umstände deuten aber auf Rechtsextreme. Auf beiden Steinen stand: "Euthanasie ist die Lösung". Die Aufschrift verweist auf die Verbrechen der Nationalsozialisten an Menschen mit körperlichen oder kognitiven Einschränkungen, die ihrem Weltbild nach minderwertig waren. Menschen wie Ulrike Meyer. Zu ihrem Schutz wurde ihr Name geändert.

"Es gab Gerüchte auf der Etage", sagt Meyer. "Ich hatte Angst nach dem Angriff. Aber ich konnte mit den anderen Bewohnern darüber sprechen, die hatten ja auch Angst." Inzwischen ist die Wand der Lebenshilfe verputzt. An der Stelle, an der der Stein einschlug, ist nur noch ein weißer Fleck. Es bleibt die Frage, was die Einrichtung tun kann, um solche Angriffe zu verhindern.

Schutzkonzepte halfen nicht

Menschen mit geistiger Behinderung seien besonders verletzlich für Angriffe, sagt Özgür Kalkan, der Leiter der Lebenshilfe. Anders als andere Personengruppen könnten sie schwerer einordnen, was ihnen widerfahren ist. Nach der Attacke wandte er sich an die Polizei und den Staatsschutz. "Die Polizei hat uns Schutzkonzepte empfohlen, die Angriffe wie diesen in Zukunft verhindern sollen", sagt er. "Die sind aber auf eine Einrichtung wie die Lebenshilfe gar nicht anwendbar."

Die Maßnahmen zielten darauf ab, die Einrichtung abzuschotten. So sollten etwa nachts die Türen abgeschlossen und kontrolliert werden. "Das löst bei den Bewohnerinnen Panik aus." Außerdem sei es nicht mit dem Ziel der Inklusion vereinbar, behinderte Menschen als gleichberechtigte Mitglieder in die Gesellschaft zu integrieren.

So entwickelte die Lebenshilfe selbst Schutzkonzepte, erzählt Kalkan: einen Bewegungsmelder vor dem Eingang, einen Ablaufplan für Personal, wie es bei Auffälligkeiten vorgehen soll, und Gespräche mit der Nachbarschaft, damit auch sie künftig wachsamer ist. Trotzdem habe die Erfahrung die Einrichtung mit einem Gefühl "teilweiser Hilflosigkeit" zurückgelassen.

Angst vor der AfD

Warum werden Menschen mit Behinderung im Rechtsextremismus als Feindbilder wahrgenommen? Ein wesentlicher Grund dafür sei der Homogenitätsgedanke, der in der rechtsextremen Weltanschauung eine zentrale Rolle spielt, sagt Jan Riebe, Referent für Rechtsextremismusprävention bei der Amadeu Antonio Stiftung. Rechtsextreme glaubten, dass Gesellschaften nur funktionieren, wenn sie eine weitgehend homogene Einheit bilden. Angriffe wie der auf die Lebenshilfe in Mönchengladbach seien eine Folge der Überzeugung, Menschen mit Behinderung seien "lebensunwert".

Diese Auffassung ist nach Riebes Einschätzung auch bei der AfD zu finden, die vom Verfassungsschutz kürzlich bundesweit als gesichert rechtsextremistisch eingestuft wurde. Der Homogenitätsgedanke verberge sich beispielsweise hinter der Aussage, inklusive Schulklassen würden das Leistungsniveau senken.

Entscheidender Faktor Solidarität

Wenige Tage nach dem Vorfall lud Kalkan zu einer Kundgebung ein. Der Mönchengladbacher Oberbürgermeister Felix Heinrich kam, ebenso Politiker aus dem nordrhein-westfälischen Landtag, insgesamt etwa 1.000 Menschen. Dennoch blieb die Zeit für ihn eine "traurige", sagt Kalkan. Denn kaum ein überregionales Medium berichtete über den Angriff. Er schrieb auch dem damaligen Bundeskanzler Olaf Scholz. Der Brief blieb bis zum Ende seiner Amtszeit unbeantwortet.

Dabei ist öffentliche Solidarität ein "zentraler Eckpfeiler der Gewaltprävention", sagt Riebe. Bleibt diese aus, könne das "fatale Signale" senden. Betroffene würden mit der Botschaft "Ihr seid kein vollwertiges Mitglied unserer Gesellschaft" zurückgelassen. Täter fühlten sich im schlimmsten Fall animiert, weitere Gewalttaten zu begehen.

"Menschen mit Behinderung sind eine Personengruppe, die strukturell oft übersehen wird", sagt auch Janine Dieckmann. Sie ist die Leiterin für den Bereich Diversität, Engagement & Diskriminierung am Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena. Behinderungsfeindliche Einstellungen seien in der Gesellschaft nach wie vor tief verankert. Dieckmann vermutet eine hohe Dunkelziffer bei rechtsextremen Gewalttaten gegen Menschen mit Behinderung. Denn diese würden unzureichend erfasst. Generell gebe es in Deutschland zu wenig Untersuchungen, die sich mit diesem Phänomen beschäftigten. Auch deshalb fühlten sich Opfer bisweilen allein.

Ein ungutes Gefühl bleibt

Die Lebenshilfe in Mönchengladbach stört sich vor allem an dem Schutzkonzept, das die Polizei ihr empfohlen hat. War die Behörde für die speziellen Bedürfnisse von Menschen mit geistiger Behinderung nicht sensibilisiert? Auf Nachfrage der ZEIT verweist die Polizei auf das Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten, das unter anderem für die Ausbildung von Polizisten zuständig ist. Das Amt antwortet, bei der Präventionsarbeit werde nicht zwischen Menschen mit und ohne Behinderung unterschieden. Jedoch erarbeite derzeit ein Arbeitskreis der Polizei Unna ein landesweites Konzept zum Thema Gewalt an Menschen mit Behinderung.

Meyer fühlt sich in der Lebenshilfe Mönchengladbach inzwischen wieder sicher. "Ich wünsche mir einfach, dass so etwas nie wieder passiert", sagt sie. Dennoch habe sich etwas für sie verändert: "Wenn ich auf der Straße unterwegs bin, schaue ich mich schon immer um und gucke, wo der nächste Polizeiwagen ist."

Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit der Technischen Universität Dortmund.