Ein Bruch, der längst überfällig war

Jetzt ging es wirklich nicht mehr anders. Benjamin Netanjahu hat das Kunststück fertiggebracht, die Bundesregierung zu etwas zu zwingen, was sie unbedingt vermeiden wollte: ihrer verhaltenen verbalen Kritik an der israelischen Kriegsführung in Gaza endlich Taten folgen zu lassen.

Nachdem das israelische Kabinett angekündigt hatte, den Krieg auszuweiten und Gaza-Stadt einzunehmen, entschied die schwarz-rote Regierungskoalition unter Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU), "bis auf Weiteres" keine Rüstungsgüter an Israel zu liefern, die in Gaza eingesetzt werden könnten. Manche mögen das als historischen Einschnitt im deutsch-israelischen Verhältnis sehen. In Wahrheit war es die einzige Möglichkeit, sich international nicht noch weiter ins Abseits zu manövrieren.

Nicht, dass der Beschluss der Bundesregierung etwas an der Hölle für die Palästinenser in der fast völlig zerstörten Enklave ändern oder Benjamin Netanjahu zum Einlenken zwingen würde. Aber am Ende wollte man in Berlin doch lieber an der Seite derer stehen, die Netanjahus Plan für wahnsinnig halten. Dazu zählen nicht nur fast alle europäischen Regierungen. Dazu zählen auch Tausende Israelis, die dagegen auf die Straße gehen. Dazu zählen der israelische Generalstabschef Ejal Samir sowie sämtliche ehemaligen Geheimdienstchefs, die ein Ende des Krieges fordern. Sie alle sind zu dem Schluss gekommen, dass die Hamas keine militärische Bedrohung für Israel mehr darstellt, dass die Geiseln nur durch ein Abkommen, nicht aber durch eine neue Offensive gerettet werden können. Und alle laufen sie gegen die Wand einer von Rechtsextremen beherrschten Regierung und eines Premierministers, der für sein politisches Überleben inzwischen auch die Zukunft seines Landes aufs Spiel setzt. Und der dafür, so paradox es klingt, die Hamas genauso braucht, wie die Hamas ihn braucht. Die Hamas muss nach einem Kriegsende ihre politische Bedeutungslosigkeit fürchten, Netanjahu den Gerichtssaal.

Kritik wird in die Sorge verpackt, Israel schade sich mit seiner Kriegsführung selbst

Nun hatte sich die deutsche Tonart zu Israels Kriegsführung bereits in den vergangenen Wochen etwas, nun ja, verschärft. Sie sei "nicht mehr nachzuvollziehen", sagte Friedrich Merz im Mai. Man müsse Israel davor bewahren, sich international zu isolieren, sagte Außenminister Johann Wadephul (CDU). Beide beklagten eher pflichtschuldig auch das "Leid der Palästinenser".

Schon in dieser Sprache steckt die Krux der deutschen Nahostpolitik. Kritik an Israel wird verpackt in die Sorge, das Land könne sich mit seiner Kriegsführung selbst schaden. Das Problem bei dieser Argumentation: Wenn ich jemanden davon abhalten möchte, weiter Verbrechen zu begehen, dann tue ich das nicht zuerst aus Sorge um die Reputation des Täters. Dann tue ich das, weil ich die Opfer dieser Verbrechen als Menschen mit Rechten anerkenne. Im Fall Gaza als Menschen, die das Recht auf Leben und auf den Schutz vor Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit haben.

Diese Unterscheidung ist keine semantische Nebensächlichkeit. Gaza ist nicht der einzige Ort der Welt, an dem derzeit das Völkerrecht mit Füßen getreten wird. Aber es ist derzeit der einzige Krieg, in dem ein demokratischer Staat, mit dem wir aufgrund der Geschichte der Shoah besonders verbündet sind, austestet, wie weit er mit unserem Wissen und unserem Beistand das Völkerrecht beschädigen kann. Das gezielte Aushungern einer Zivilbevölkerung ist ein Kriegsverbrechen. Gleiches gilt für die systematische Zerstörung des Gesundheitswesens, der Schulen, der Wasser- und Stromversorgung. Die offenbar geplante "freiwillige" Umsiedlung Tausender Palästinenser wäre eine ethnische Vertreibung.

Nichts von alldem steht im aktuellen Beschluss der Bundesregierung. Keines ihrer Mitglieder hat diese massiven Verbrechen bislang benannt.

Genau das aber müsste geschehen, damit aus diesem Einschnitt im deutsch-israelischen Verhältnis eine völkerrechtlich konsequente Position wird. Zu der gehört auch ein deutliches Bekenntnis dieser Bundesregierung zur internationalen Justiz. Das heißt: Die Bundesregierung muss sowohl den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Benjamin Netanjahu respektieren als auch das Verfahren des Internationalen Gerichtshofs (IGH). Bei dem ist die Klage Südafrikas gegen Israel wegen des Verdachts auf einen Genozid in Gaza anhängig. Egal, ob man diesen Vorwurf für richtig, überzogen oder politisch manipulativ hält: Die Lieferung von Rüstungsgütern an Israel hätte Berlin schon längst einstellen müssen.

Besser spät als nie – und vielleicht ebnet dieser Beschluss in Deutschland den Weg zu einer sachlicheren Debatte, in der Empathie für die Opfer der einen Seite nicht gegen Empathie für die Opfer der anderen ausgespielt wird, sondern Menschenrechte und Völkerrecht zugrunde gelegt werden. Ein frommer Wunsch, ich weiß.