Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit: Leistet Deutschland genug?
„Diese Regierung interessiert sich nicht für das koloniale Erbe.“ Der Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer findet deutliche Worte. Gerade hat er die Antworten der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen gelesen, die dem Tagesspiegel exklusiv vorliegt, und in der sie ihren Umgang mit der deutschen Kolonialvergangenheit skizziert.
„Wir hatten in Deutschland beim Thema Kolonialismus lange eine völlige Amnesie“, sagt Zimmerer. Seit etwa 2015 habe es dann wieder verstärkt Interesse an der Aufarbeitung gegeben, Höhepunkt waren die Black Lives Matter-Proteste 2021. „Doch seitdem erleben wir einen konservativen Rollback.“

Jürgen Zimmerer lehrt Globalgeschichte an der Universität Hamburg, wo er von 2014 bis 2024 die Forschungsstelle „Hamburgs (post-)koloniales Erbe“ leitete.
Worum geht es? Auf der Berliner Afrikakonferenz 1884–1885 sicherte sich das Deutsche Reich einen erheblichen Anteil am Kontinent und stieg aus dem Nichts zum flächenmäßig drittgrößten Kolonialreich weltweit auf. Vier Kolonien unterhielt Deutschland seither in Afrika: Togo und Kamerun in Westafrika, Deutsch-Ostafrika und Deutsch-Südwestafrika. Dazu kamen Gebiete, die nur zeitweise unter deutscher Herrschaft standen, außerdem Gebiete in Ozeanien und ein Handelsposten in China.

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Für die Kolonisierten hatte dies dramatische Folgen. Sie gerieten nicht nur in eine strukturelle Abhängigkeit von den deutschen Besatzern und wurden ihrer kulturellen Identität beraubt. Immer wieder kam es auch zu brutalen Akten der Gewalt.
Im Maji-Maji-Aufstand starben zwischen 1905 und 1907 in Deutsch-Ostafrika geschätzt zwischen 75.000 und 300.000 Menschen, viele durch gezieltes Aushungern. Der Völkermord an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika forderte rund 100.000 Opfer.
Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero, mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen. Ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr auf.
Mit diesem Befehl ordnete der deutsche Generalleutnant Lothar von Trotha 1904 den Völkermord im heutigen Namibia an.
Deutschland hat diesen Völkermord inzwischen anerkannt. Doch die mit der namibischen Regierung verhandelte „Gemeinsame Erklärung“ ist noch immer nicht ratifiziert, da die Nachkommen sich nicht angemessen beteiligt sehen. Außerdem störten sie sich daran, dass die von Deutschland zugesagten 1,1 Milliarden Euro nicht als Wiedergutmachung, sondern zum Großteil als Entwicklungshilfe deklariert werden sollen.

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Das Wort „Wiedergutmachung“ will die Bundesregierung unbedingt vermeiden, wohl damit keine Rechtsansprüche in unkalkulierbarer Höhe entstehen. Dabei beruft sie sich darauf, dass es zum Zeitpunkt der Gewalttaten noch kein Völkerstrafrecht gegeben habe. „Das Konzept der Wiedergutmachung ist daher im Zusammenhang mit der kolonialen Vergangenheit Deutschlands nicht anwendbar.“ So schreibt es die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage.
Für Zimmerer ein Unding: „Würde man das konsequent zu Ende denken, gäbe es ja auch keine Wiedergutmachungsleistungen für den Holocaust. Da wird aus meiner Sicht mit zweierlei Maß gemessen.“
Es kann nicht unser Anspruch sein, uns hinter formaljuristischen Argumenten zu verstecken.
Bundestagsabgeordnete Awet Tesfaiesus (Grüne) sieht die Bundesregierung in der moralischen Pflicht, sich um Wiedergutmachung zu bemühen.
Die Bundestagsabgeordnete Awet Tesfaiesus von den Grünen, findet, dass diese Argumentation koloniale Hierarchien reproduziert. „Es kann nicht unser Anspruch sein, uns hinter formaljuristischen Argumenten zu verstecken – gerade nicht in einer Republik, deren Grundgesetz die unantastbare Menschenwürde ins Zentrum ihrer Staatlichkeit stellt“, sagt sie.
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„Bis heute sind ehemalige willkürliche Entscheidungen der Grenzverschiebungen und die bewusste Herabsetzung von Ethnien die Ursachen der vielen bewaffneten Konflikte. Auch jetzt geht es noch um Ausbeutung von Rohstoffen. Äußerst beschämend für Europa - auf eine öffentliche Entschuldigung, z. B. der Königshäuser, warten alle Länder bis heute - und dabei sind die westlichen Demokratien hier keineswegs Vorreiter!“ Diskutieren Sie über folgenden Link mit Bestnote20
In deutschen Museen lagern noch immer zehntausende Objekte aus den Kolonien
Ein weiteres Streitthema: Die Rückgabe von Kulturgütern. Dies betrifft sowohl Kunstgegenstände als auch menschliche Überreste, etwa Schädel, die zum Zweck der „Rassenforschung“ nach Deutschland gebracht wurden.
2022 gab Deutschland die Eigentumsrechte an 1000 Benin-Bronzen an Nigeria zurück, etwa 20 sind inzwischen wieder dort. An dem Schritt gab es Kritik, da die nigerianische Regierung sie dem Oba des Königreichs Benin überließ – einer Privatperson also.

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SPD-Politiker Helge Lindh verteidigte das Vorgehen damals. Der Schritt Nigerias sei eine Demonstration, „was es bedeutet, die Kontrolle abzugeben“. Deutschland hätten nicht darüber zu entscheiden, wie Nigeria mit den Objekten umgehe.
Inzwischen hat der Oba zugestimmt, die Bronzen dauerhaft der nigerianischen Museumskommission zur Verfügung zu stellen. Auch das inzwischen CDU-geführte Auswärtige Amt sieht heute in der Rückgabe ein „positives Kapitel in der deutsch-nigerianischen Zusammenarbeit“.

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Für Historiker Zimmerer ist das nicht genug. „Mein Eindruck ist, dass sich die Regierung praktisch nur noch um die Rückgabe menschlicher Überreste bemüht.“ Von Kunstgegenständen sei in den Antworten der Bundesregierung kaum noch die Rede. „Aber das wundert mich nicht. Menschliche Überreste sind für Museen praktisch wertlos“, so Zimmerer.
Die Etats des Kulturstaatsministers für „Schutz, Erwerb und Rückführung von Kulturgut“ sowie „Globaler Süden und Aufarbeitung des Kolonialismus“ wurden im Haushalt des Jahres 2025 gegenüber dem Vorjahr um jeweils etwa die Hälfte gekürzt.
Opernhaus statt Gedenkstätte in Hamburg
Die Bundesregierung hat sich vorgenommen, einen „würdigen Erinnerungsort“ für die Opfer des Kolonialismus zu schaffen. So steht es im Koalitionsvertrag und den Antworten. Doch im Interview mit dem Deutschlandfunk kündigte Kulturstaatsminister Weimer vor wenigen Wochen an, das Thema aus dem Gedenkstättenkonzept zunächst ausklammern und in ein eigenes Konzept zu verlagern.
Für Zimmerer das falsche Signal. „Es gab Vorschläge für einen zentralen Erinnerungsort am Hamburger Baakenhafen, wo sich die deutschen Kolonialtruppen einschifften. Jetzt soll dort stattdessen das von Klaus-Michael Kühne gestiftete Opernhaus gebaut werden“, sagt er. Das zeige beispielhaft, welcher Stellenwert der Aufarbeitung zugestanden werde.

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„Wenn die Bundesregierung der Kolonialgeschichte tatsächlich große Bedeutung beimisst, muss sie die Schaffung eines würdigen Erinnerungsortes endlich mit Nachdruck vorantreiben“, findet auch Tesfaiesus. Gespräche mit Zivilgesellschaft und Wissenschaft seien wichtig, dürfen aber kein Vorwand für Ergebnislosigkeit sein.
1885 wurde auf der Berliner Afrikakonferenz nichts anderes getan als beim Treffen heute in Alaska. Nur sitzen wir jetzt auf der anderen Seite.
Historiker Jürgen Zimmerer sieht eine Wiederkehr imperialistischen Denkens.
Bis heute wirken koloniale Abhängigkeitsverhältnisse in Afrika und anderen Teilen der Welt fort, etwa in der Wirtschaft. Dies spiegelt sich auch in internationalen Organisationen. Die Bundesregierung betont, dem entgegenwirken zu wollen. So wurde zuletzt etwa ein weiterer Sitz im Exekutivdirektorium des Internationalen Währungsfonds (IWF) für Sub-Sahara Afrika geschaffen.
Aus Sicht von Jürgen Zimmerer ein guter, aber kein ausreichender Schritt. „Wir müssen viel grundsätzlicher über das Fortwirken von Machtasymmetrien diskutieren“, sagt er, gerade in Zeiten einer Wiederkehr imperialen Denkens. „Heute Nacht war der Gipfel in Alaska und die Ukrainer beklagen berechtigterweise, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wird. Auf der Berliner Afrikakonferenz wurde 1885 nichts anderes getan“, sagt er. „Nur sitzen wir jetzt auf der anderen Seite.“