Auf dem Weg nach Europa
Dieser Beitrag ist Teil unseres Schwerpunkts "Haben wir es geschafft?" über ein Deutschland zehn Jahre nach Angela Merkels historischer Entscheidung.
Die Monate, die Europa verändert haben, konnte ich früh erahnen. Anfang des Jahres 2015 hatte ich mich in ein kleines, verfallenes Hotel in der westtürkischen Hafenstadt Izmir einquartiert. In Syrien herrschte Krieg, 1,7 Millionen Menschen waren damals in die Türkei geflohen, die meisten lebten dort in abgeriegelten Zeltlagern. Es gab wenig Hoffnung, in der Türkei ein Leben aufzubauen. Europa dagegen schien Sicherheit zu versprechen, und der Weg dahin führte oft über Izmir.
Dort war eine regelrechte Fluchtindustrie herangewachsen: irreguläre Geldtransferdienste, Geschäfte, die billige Schwimmwesten verkauften, und ranzige Hotels in der Altstadt, die mehr boten als nur Unterkunft. In einem solchen verbrachte ich damals eine knappe Woche und beobachtete Langeweile und Hoffnung. Im Innenhof vertrieben sich syrische Geflüchtete die Zeit, spielten Karten im Schatten eines mächtigen Feigenbaums, rauchten, diskutierten über den Krieg und über die Verheißung Europa.
Von einem Hotelzimmer am Eingang zum Innenhof aus bot ein Mann, der sich mir als Hussein vorstellte, seine Dienstleistung an. Hussein war Schmuggler, vermittelte Plätze auf billigen Gummibooten, die nach Griechenland übersetzten. Doch sein Geschäft lief schleppend. Der Wind war zu stark, die Wellen zu hoch, das Wasser zu kalt. Wenn es wärmer werde, erzählte mir Hussein, könne er sich kaum vor Anfragen retten.
Als ein paar Monate später das Meer ruhig und warm wurde, begann, was wir heute die Flüchtlingskrise nennen: Millionen Menschen, die vor Krieg und Hoffnungslosigkeit flohen. Dazu Zehntausende Helfer in Europa. Zäune inmitten des Kontinents. Auch Gewalttäter, die sich unter die Schutzsuchenden mischen und das Willkommen ausnutzen. Und antidemokratische Kräfte, die bis heute mit Angst vor Fremden Politik machen.
In der öffentlichen Wahrnehmung begann diese Zeit auf der griechischen Insel Kos, wo im August 2015 Tausende Menschen landeten. Auch ich berichtete von dort – und in den nächsten Monaten von zahlreichen Orten auf der Route von Griechenland über den Balkan in Richtung Deutschland. Das sind einige meiner Bilder aus dieser Zeit.
Die Fluchtrouten verschoben sich ständig. Im Spätsommer 2015 verlagerten sich die Ankünfte Geflüchteter auf die griechische Insel Lesbos. Anstatt der anfangs viel verwendeten billigen, kleinen Schlauchboote kamen nun entweder große Schlauchboote, die einzig für den Transport vieler Menschen ausgelegt waren, oder wie in diesem Fall ausrangierte Fischerboote. Wenn diese wegen Überladung kenterten, wurden die Kajüten schnell zu Todesfallen.
Die meisten Menschen flohen aus Syrien, aber es kamen von Anfang an auch Geflüchtete aus anderen Ländern, vor allem aus dem Irak und Afghanistan. Dieses Mädchen und seine Familie auf Kos kamen aus Pakistan.
Auf der griechischen Insel Lesbos waren die offiziellen Strukturen schnell überfordert. Fischer übernahmen teils den Job der Küstenwache, Dorfbewohnerinnen versorgten Menschen mit Essen, und Aktivisten bauten Zeltlager auf. Allerdings waren diese schnell überfüllt, und die Menschen schliefen auf der Straße – wie diese kurdische Familie aus dem Irak.
Als Laith Majid al-Amiri und seine Familie aus der Türkei nach Kos übersetzten, füllte sich ihr völlig überladenes Schlauchboot mit Wasser. Zwölf Männer, Frauen und Kinder waren auf ihm zusammengepfercht. Am sicheren Strand brachen al-Amiri die Tränen aus. Die Familie war aus dem Irak geflohen, weil sie dort von bewaffneten Gruppen bedroht wurden. Inzwischen sind sie wieder in Bagdad. Nur der älteste Sohn ist in Deutschland geblieben, weil die Drohungen vor allem ihm galten.
Viele Menschen ließen sich auf den Ladeflächen von Lkw über den Balkan in Richtung Deutschland schmuggeln. Wer dafür kein Geld hatte, musste die langen Strecken zu Fuß zurücklegen und dabei zahlreiche Grenzen überqueren. Mohammed Kussa aus Syrien und seine Familie hatten hier gerade die Grenze von Serbien nach Ungarn überquert, die zu diesem Zeitpunkt leicht passierbar war.
Die Wege durch Ungarn führten über Bahngleise, durch Äcker und Felder. Es war im September heiß, und es gab kaum Schatten. Ganz im Gegensatz zu den Umständen auf den griechischen Inseln waren die Menschen hier meist auf sich allein gestellt – freiwillige Helfer gab es in Ungarn kaum.
Im späten August wurde der Bahnhof Budapest zum Knotenpunkt der Fluchtbewegung. Tausende Menschen saßen hier fest. Am 4. September machte sich eine Gruppe in Richtung der Grenze zu Österreich auf, es ist der sogenannte Migrantenmarsch von Budapest nach Wien auf der Autobahn M1. Angela Merkel und ihr österreichischer Amtskollege Werner Faymann waren zu dem Schluss gekommen, dass die Menschen nur mit Gewalt aufgehalten werden könnten. Das wollten sie vermeiden, also entschieden sie an diesem Tag, sie passieren zu lassen. Eine der folgenreichsten Entscheidungen in Merkels Amtszeit.
Vom Bahnhof Budapest bis an die Grenze zu Österreich sind es knapp 180 Kilometer. Der dreißigjährige Safi aus Syrien marschierte auf Krücken. Seine Mitreisenden trugen seine Beinprothese. Er hatte bei einem Bombenangriff auf Aleppo ein Bein verloren.
Aus Budapest fuhren Sonderzüge mit Geflüchteten nach München. Dort am Bahnhof empfingen sie Hunderte Menschen klatschend, verteilten Essen und Spielzeug. Es war Merkels Losung "Wir schaffen das" in Handeln übersetzt.
Ab Herbst 2015 gab es eine gewisse Infrastruktur. Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen UNHCR hatte Registrierungszentren an den Grenzen errichtet, transportierte Menschen in Bussen und Zügen. An einem kalten und regnerischen Tag kamen Abdulkader Abdulrazak, vier, und seine Geschwister ohne Schuhe in der südserbischen Grenzstadt Preševo nahe der Grenze zu Nordmazedonien an. Im Registrierungszentrum erhielten sie trockene Kleidung und Schuhe. Die zwölfköpfige Familie war aus Syrien geflohen.
Im November versuchten die Behörden Nordmazedoniens, die Route über den Balkan zu schließen. Sie positionierten Militär an der Grenze zu Griechenland. Einige Gruppen von Geflüchteten protestierten dagegen – wie diese Menschen aus dem Iran.
Das Militär Nordmazedoniens errichtete Zäune an der Grenze zu Griechenland. Es war das Sinnbild für das Ende des Willkommens, für den Versuch, die Fluchtbewegung einzudämmen, sie wieder unter Kontrolle zu bekommen.
Unter den Geflüchteten waren auch Überlebende des Genozids an den Jesiden wie Dawriya Makhsin und ihre Familie aus Sindschar im Irak. Auf dem Foto warten sie in Serbien im kalten Regen auf einen Zug nach Kroatien.
Rund 1.300 Migranten, viele davon aus dem Iran und Pakistan, saßen an der Grenze von Griechenland nach Nordmazedonien fest. Weil sie nicht aus dem Irak, Afghanistan oder Syrien kamen, durften sie nicht durch.
Bis Ende 2015 kamen etwa 1,3 Millionen Menschen über das Mittelmeer und den Balkan in die Europäische Union. Für mich als Fotograf endete an der Grenze zwischen Griechenland und Nordmazedonien ein Jahr, in dem ich viel Hoffnung, Enttäuschung, Leid und Freude miterleben durfte.