Wie CDU und SPD die Ergebnisse der NRW-Wahl für sich nutzen wollen

Selten hat eine Kommunalwahl so unmittelbar auf die Dynamik der Koalition in Berlin ausgestrahlt, wie es in dieser Woche zu beobachten ist. Nach den Abstimmungen in Nordrhein-Westfalen feiert sich die CDU im Bund streng choreografiert als "Kommunalpartei Nummer eins". Wortgleich setzen Parteichef Friedrich Merz, Fraktionschef Jens Spahn, Generalsekretär Carsten Linnemann jedenfalls diesen Spin.

Das ist schon nachvollziehbar, denn, tatsächlich, die CDU hat die Wahl in NRW gewonnen, sie bleibt mit Abstand stärkste Partei. Zugleich sind die 33,3 Prozent ein Ergebnis, von dem Merz nur träumen kann – er selbst holte als Spitzenkandidat nur 28,5 bei der Bundestagswahl. Und seitdem ist die Union in Umfragen noch einmal abgesunken, in der Sonntagsfrage im Bund macht die AfD ihr das Etikett "Nummer eins" streitig. Insofern zeigt die Sprachregelung auch Elemente einer Selbstvergewisserung.  

Auch bei der SPD haben die Eruptionen des Wahlausgangs Berlin erreicht. Die Ergebnisse machten sie zwar nicht glücklich, seien aber auch kein Desaster, sagte Co-Vorsitzende und Arbeitsministerin Bärbel Bas noch am Wahlabend. Trotzdem ist die Unzufriedenheit spürbar, gerade im Ruhrgebiet, wo die SPD vielerorts erneut geschrumpft ist. Welche Schlüsse also wollen die Parteizentralen aus den Ergebnissen nun ziehen? Und vor allem: Wird die Union ihre Stärke im Westen nutzen, um der SPD gerade im Hinblick auf die Reform des Sozialstaats Zugeständnisse abzuringen?

CDU-Parteichef Merz hatte – kurz vor der Wahl – angekündigt, die Ergebnisse ganz genau zu analysieren und daraus Konsequenzen zu ziehen für die weitere politische Auseinandersetzung. Nach der Wahl ist davon noch wenig zu sehen. Im Parteipräsidium fand, so ist zu hören, keine tiefe Analyse statt, und öffentlich äußerte sich Merz nur mit einem knappen Post auf X zur Lage: "Wir gehen die Probleme in Bund, Ländern und Kommunen entschlossen an. Lösungen gibt es nicht am Rand, sondern in der Mitte – mit Antworten für unsere Wirtschaft, Migration und Sicherheit."  

Tatsächlich waren, laut einer Wählerbefragung des WDR, Wirtschaft, Einwanderung und Integration sowie öffentliche Sicherheit die entscheidenden Themen bei dieser Wahl. Die Marschroute nach der Wahl ist also die altbekannte Arbeitshypothese der Merz-CDU. Politikwechsel und Probleme lösen. So wie man es im Wahlkampf und in den ersten Regierungswochen versprochen hat, und damit die Leute eine neue Politik nicht nur in Statements von Politikern hören, sondern auch vor Ort spüren, dass sich etwas ändert. Nur so lasse sich die Unzufriedenheit, die sich im Votum für die AfD äußere, bekämpfen.   

Die Union könnte aus dem Ergebnis noch einen ganz anderen Vorteil ziehen: die schwächelnde SPD in den kommenden Wochen zu den Sozialreformen verpflichten, gegen die sich die Genossen bislang mit einiger Vehemenz sträuben. Die Koalition hat nach dem Sommer des Missmuts umstrittene Entscheidungen zu treffen, bei der Umgestaltung des Bürgergelds etwa oder bei den Ausgaben des Staates: 172 Milliarden Euro fehlen in der mittelfristigen Finanzplanung trotz des Sondervermögens. 

Beide Parteien hätten eine ähnliche Rückmeldung aus dem Kommunalwahlkampf bekommen, argumentiert Steffen Bilger, der erste Parlamentarische Geschäftsführer der Union im Bundestag: "Im Sozialstaat läuft vieles nicht richtig." Das hätten auch viele in der SPD so mitbekommen, das hofft zumindest der CDU-Politiker. Hinter vorgehaltener Hand äußert sich manch ein Abgeordneter der Union deutlicher, Tenor: Jetzt müssten auch die letzten Träumer bei der SPD doch einsehen, woher der Winde im Land wehe. Maßnahmen gegen Sozialbetrug, mehr Abschiebungen, das müsse jetzt alles kommen.  

Die SPD hingegen sieht gar keinen Anlass für eine Umverteilung der Macht. Die SPD habe vielerorts gute Ergebnisse erzielt, sagt Dirk Wiese, Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion, im Gespräch mit der ZEIT. Die viel beschriebene "blaue Welle" der AfD sei "schon früh am Wahlabend verebbt". Das Machtgefüge in der Koalition, ist Wiese überzeugt, habe sich nach der Wahl in NRW nicht verändert. Man habe seit der Klausurtagung in Würzburg die klare Vereinbarung mit der Union, "konstruktiv und auf Augenhöhe" zusammenzuarbeiten, sagte Wiese. "Ich bin guter Dinge, dass das gelingt."  

Doch gerade im Ruhrgebiet sehen das Wieses Parteifreunde etwas anders. Es geht die Furcht um, dass die SPD nicht nur in der Koalition unter die Räder geraten könnte, wenn sich am Zustand der Partei nicht bald etwas ändert. Im Stammland der Sozialdemokratie geht es um das Existenzielle. "Die Leute erwarten gar nicht, dass von heute auf morgen Brücken gebaut oder Schulen saniert werden. Was wir jetzt aber brauchen, ist eine gemeinsame Vision, die über ein paar Spiegelstriche im Koalitionsvertrag hinausgeht", sagt Hendrik Bollmann, SPD-Bundestagsabgeordneter aus dem Wahlkreis Herne-Bochum.  

Die erlösende Vision. Auf die wartet man in der SPD nun schon lange. Das Flehen und Seufzen der Basis ist in Berlin zwar längst zu hören, doch eine hoffnungstiftende Reaktion gab es bislang nicht. "Es gibt kein neues Angebot, keine Reformideen, keine Zumutungen, etwa bei der Rentenpolitik", sagt Martin Florack, Politikwissenschaftler am Wissenschaftscampus NRW in Oberhausen. Aus Sorge vor der Reaktion der Rentner, die eine große Wählergruppe darstellen, schrecke die SPD vor wichtigen Reformen zurück. Der Mechanismus ähnele der schrumpfenden Mitgliederzahl der Kirchen, meint Florack: "Je kleiner sie werden, desto hermetischer werden sie, weil die verbliebenen Mitglieder das so wollen."   

Hinzu kommt, dass die SPD nach der Kommunalwahl in NRW erneut vor einem strategischen Dilemma steht: Gewinnt die Partei wieder an Zuspruch, wenn sie linker wird – oder konservativer? "Die SPD trägt dieses schwer aufzulösende Dilemma immer mehr in sich", sagt Florack. Würde die Partei konservativer, stieße sie ihre Wähler in Großstädten und ihren Jugendverband Jusos vor den Kopf. Würde sie linker, würden ihr das wichtige Wählergruppen übel nehmen, die noch nie sonderlich progressiv waren. Der parlamentarische Geschäftsführer Wiese sagt: "Diesen Spagat muss eine Volkspartei schaffen."  

Klar sei aber auch, dass die SPD beim Thema Migration "klare Kante" zeigen wolle gegenüber denjenigen, die schwere Straftaten begingen. "Dazu müssen wir mehr auf unsere Oberbürgermeister und Bürgermeister hören", sagt Wiese. Damit dürfte er zum Beispiel Sören Link meinen, Oberbürgermeister in Duisburg, der sich mit seiner strikten Migrationspolitik in der Partei einen Namen gemacht hat.   

Der SPD-Abgeordnete Bollmann hält indes wenig von Einteilungen in links und rechts. "Wir sind dann stark, wenn wir als Problemlöser vor Ort auftreten", sagt er. Bei seinen Veranstaltungen im Wahlkreis mache Bollmann immer wieder die gleiche Beobachtung: "Manchmal wollen sich die Leute hier auch mal auskotzen. Wir müssen wieder die Partei sein, bei der sie das tun."