Für die Ukraine ist das eine Chance

Was Wolodymyr Selenskyj wohl tatsächlich über den jüngsten U-Turn in Donald Trumps Ukraine-Politik denkt? Was glaubt die ukrainische Führung, wie lange der amerikanische Präsident in die neue Richtung fährt, bevor er erneut abrupt und mitten auf der Straße das Steuer herumreißt?

Öffentlich jedenfalls tat Selenskyj am Mittwoch so, als sei die "große Kehrtwende" von Dauer. "Gemeinsam können wir viel ändern", sagte er in seiner Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen in den New Yorker Vormittagsstunden und lobte, wie immer, den amerikanischen Präsidenten. 

In New York treffen sich in dieser Woche die Großen und Mächtigen bei den Vereinten Nationen. Sie laufen schau im Weltsaal des UN-Gebäudes in Manhattan. Und sie treffen sich zum internationalen Speeddating, zu zahllosen bilateralen Gesprächen am Rande dieser 80. Generalversammlung. Auch für die Ukraine sind es wichtige Treffen. Existenzielle vielleicht, zumal die Vorzeichen überraschend andere sind als erwartet.

Am Dienstag, also einen Tag vor Selenskyj, hatte Donald Trump vor den Vereinten Nationen gesprochen und sich mit dem ukrainischen Präsidenten getroffen. Danach hatte er abrupt seinen öffentlichen Standpunkt in einer zentralen Frage dieses Krieges geändert: Kann die Ukraine ihn überhaupt gewinnen? Und was heißt gewinnen?

Monatelang hatte Donald Trump es immer wieder als praktisch unabwendbar dargestellt, dass Russland jene ukrainischen Territorien behält, die es bereits erobert hat. Nach dem Gespräch mit Wolodymyr Selenskyj in New York dann plötzlich neue Töne. Er habe die "Russland-Ukraine-Situation" nun "kennengelernt und vollständig verstanden", schrieb Trump auf seiner Plattform Truth Social. Er glaube, mit Unterstützung der Europäischen Union sei die Ukraine in der Lage "zu kämpfen und die gesamte Ukraine in ihrer ursprünglichen Form zu GEWINNEN" – "gewinnen" in Großbuchstaben. "Warum nicht?"

Drohnenkrieg verwischt Grenzen

Seit Beginn des Krieges sind der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und seine Redenschreiber gut darin, das Momentum zu erkennen, Selenskyjs Reden auf die Dynamik des Moments abzustimmen, politische Entwicklungen im jeweiligen Gastland aufzunehmen. 

Das taten sie auch dieses Mal. Selenskyj bezog sich auf die Ermordung des politischen Aktivisten und Trump-Vertrauten Charlie Kirk vor zwei Wochen als Beispiel für jene Gewalt, die es immer und überall zu bekämpfen gelte. Er griff Trumps Rede auf, zumindest zu Beginn. Vor allem aber versuchte er das Momentum zu nutzen, das sich aus den Ereignissen in Europa in den vergangenen Wochen ergibt. 

Das Hauptthema seiner Rede ist die Art und Weise, wie Drohnen den Krieg verändern. Der moderne Drohnenkrieg, sagte Selenskyj, erzeuge dutzende Quadratkilometer Land, "in denen sich nichts bewegt, nichts lebt". Über denen sich Drohnen gegenseitig bekämpfen. Und zwar so, dass Menschen ganze Landstriche nicht mehr betreten können. Drohnen, sagte Selenskyj außerdem, entkoppeln den Krieg von der Geografie. Auch Länder, die mit einem Aggressorstaat gar keine gemeinsame Grenze haben, können betroffen sein. Er fordert die Vereinten Nationen auf, der Welt Regeln für den Einsatz von Drohnen zu geben – und auch für die Künstliche Intelligenz, die heute schon viele von ihnen zu steuern hilft.

Der Drohnenkrieg und die geografische Entgrenzung sind bereits heute Realität. Die entvölkerten Landstriche, die Selenskyj beschreibt, an manchen Frontabschnitten in der Ukraine gibt es sie schon. Und auch die Entgrenzung durch Drohnen findet tatsächlich statt. Russische Drohnen sind in den Luftraum Polens eingedrungen. Und Dänemark musste am Montagabend den Flugverkehr in Kopenhagen einstellen, weil drei große Drohnen über dem Flughafen kreisten. Die Untersuchungen laufen noch, die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen schloss aber ausdrücklich nicht aus, dass es sich um russische Drohnen handelte. Auch in Oslo wurden Drohnen gesichtet, war der Flugverkehr unterbrochen.