So verkommt der "Herbst der Reformen" zum Running Gag

Seit nahezu zwei Wochen debattiert der Bundestag nun über den Haushalt. Zu erleben waren zwei Generaldebatten, eine naturgemäß empörte Opposition und eine schwarz-rote Koalition, bei der sich vor allem ein Eindruck verfestigt: Die Regierung, die so viel Schulden machen kann wie keine vor ihr, hat bislang weder bewiesen, dass sie so wie versprochen mit dem Geld umgeht, noch dass sie auch sparen kann.

Und an der Spitze dieser Regierung steht ein Kanzler, der im Gestus der Entschlossenheit immer wieder einen "Herbst der Reformen" ausgerufen hat, aber kaum Vorstellungen davon anbietet, wie dieser aussehen könnte und wo denn – jenseits des Bürgergeldes – tatsächlich noch eine fällige Rekordsumme im Haushalt eingespart werden soll. Nur zwei von mehreren unglücklichen Impressionen der vergangenen Tage: 500 Milliarden Euro Sondervermögen für Infrastruktur hat die neue Regierung zur Verfügung – aber kein Geld für neue Straßen, für neue Schienen. Und aus dem Topf für versprochenermaßen "zusätzliche" Investitionen fließen Milliarden an längst eingeplante Haushaltsposten. 

Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers an diesem Mittwoch hat diese Eindrücke bedauerlicherweise bestätigt. Für seinen Auftritt in der Generaldebatte zum Haushalt 2026, seiner zweiten Regierungserklärung binnen sieben Tagen, ließ der Kanzler die UN-Generalversammlung in New York sausen. Er stellte sich Tino Chrupalla statt Donald Trump. Merz, dem das Image als Außenkanzler zunehmend unangenehm wird, wollte zeigen, er kümmere sich in außenpolitisch turbulenten Zeiten wieder stärker um die Herausforderungen seiner Koalition daheim, um die Niederungen der Innenpolitik. Doch überzeugend geriet dies nicht.

Denn große Teile seiner Rede widmete Merz der Rechtfertigung, er erklärte noch einmal seine Regierungserklärung aus der Vorwoche. Dabei verwahrte er sich gegen ein Zerrbild, das nach dieser Rede von ihm gezeichnet worden sei: als jemand, der den Sozialstaat schleifen wolle. In Wahrheit wolle er, sagte Merz, den Sozialstaat durch Reformen zukunftsfähig machen und zwar indem er … nun ja, das lässt sich auch nach diesem Auftritt nicht sagen.

Auffällig an diesem Vortrag, des ersten aus der Feder eines neuen Redenschreibers, war die Wortkombination "sehr konkret". Beim Streitthema Bürgergeld werde es noch dieses Jahr "sehr konkrete Vorschläge" geben. Zur Staatsmodernisierung werde man kommende Woche bei einer Kabinettsklausur "sehr konkrete Entscheidungen" treffen. Genau dort im Konkreten liegt nämlich die offene Flanke des Kanzlers: Ja, was denn nun konkret? Macht Merz so weiter, verkommt sein "Herbst der Reformen" zum Running Gag.

Die Koalition ist sich nur in einer Wette einig

Gewiss, die Lage ist komplex. Es geht darum, eine Rekordsumme von mehr als 30 Milliarden Euro für den Haushalt 2027 einzusparen, während die Wirtschaft schwächelt, die Sicherheit bedroht ist und sich die globale Ordnung auflöst. Der Auftritt des Kanzlers verdeutlichte zudem die schwierige Konstellation in der Koalition. Sprach er markig (wenngleich vage) über Sozialstaatsreformen, klatschte man beim Partner SPD nur äußerst spärlich. Die Koalition scheint sich vor allem einig in der Wette auf Wachstum. Die geht so: Wenn die Wirtschaft wieder anspringe, werden sich die Sparsumme und die anstehenden Reformen schon auf ein erträgliches Maß einpendeln. 

So wichtig die Wettbewerbsfähigkeit auch ist, der Widerspruch zum Reformhabitus des Kanzlers ist nicht mehr zu überhören. Union und SPD führen zwar auch Gespräche über das Bürgergeld, aber sie liegen in vielen Fragen weit auseinander: Auf wen soll sich der Sozialstaat konzentrieren? Wer soll welchen Beitrag zu den vielen einzusparenden Milliarden leisten? Die Ungeduld der Wählerinnen und Wähler, eine zunehmende Verdrossenheit lässt sich an Zahlen ablesen. In den Umfragen ist die AfD inzwischen auf Platz eins geklettert.

Klar, der Kanzler kann nicht einfach per Regierungserklärung ein paar Großreformen aus dem Ärmel schütteln. Nur: Wer vollmundig einen Herbst der Reformen ausruft, sollte auch eigene Ideen entwickeln, die über Schlagworte hinausgehen, Wahrheiten aussprechen, auch wenn sie manchen nicht gefallen mögen – er kann nicht einfach nur um Geduld bitten. Vizekanzler Lars Klingbeil, als Finanzminister der Wächter über den Staatshaushalt, hat das am Dienstag immerhin in Ansätzen getan, indem er das Land auf harte Zeiten einschwor. 

Ja, auch moderate Steuererhöhungen gehören ins Bild

Das hätte man heute auch und gerade vom Regierungschef erwarten dürfen. Dazu gehört das Eingeständnis: Der Spardruck ist derart hoch, dass alle etwas werden beisteuern müssen – nicht nur die Empfänger von Bürgergeld oder die Ukrainer unter ihnen. Leistungen des großen, weitverzweigten Sozialstaats stehen zur Disposition, die Verwaltung muss unkomplizierter werden, und ja, auch moderate Erhöhungen von Steuern für diejenigen, die es sich leisten können, sind ein Teil der Lösung. Auch die Frage, wie die hohen Sozialabgaben, die die Arbeit verteuern, sinken können, harrt einer Antwort – unter den Hauptrednern im Bundestag sprach nur Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann darüber.  

Ein zu Reformen entschlossener Kanzler kann diese Wahrheiten nicht allein in Expertenkommissionen auslagern. Er und Klingbeil müssen ihre Fraktionen und Parteien auf anstehende Kompromisse vorbereiten. Denn die Zeit drängt: Das window of opportunity öffnet sich doch nicht in ferner Zukunft, wenn die diversen Kommissionen getagt haben, sondern jetzt. Die nächsten Landtagswahlen sind erst in sechs Monaten, eine solche Pause wird es im Superwahljahr 2026 nicht mehr geben. Gerade vor einer Landtagswahl in Sachsen-Anhalt, vor der die politische Mitte wegen der Stärke der AfD schon jetzt zittert, wird man das kaum noch wagen. 

Also worauf warten? Die Wählerinnen und Wähler haben ein feines Gespür dafür, wenn markige Ankündigungen und triste Koalitionsrealität auseinanderfallen. Für Merz und seine Koalition steht viel auf dem Spiel: Eine Regierung, die die Probleme des Landes lösen will, hätte es schwer mit einem Mann an der Spitze, der als Ankündigungskanzler gilt.