Die Reihen schließen und den Feind beschwören

Welches Argument, weiter im Amt zu bleiben, hat ein Premierminister, der nach nur einem Jahr zu den unbeliebtesten der britischen Geschichte zählt? Dem die Wählerschaft in Scharen nach rechts wie nach links davonläuft? Dem interne Kritiker vorwerfen, ein "Klima der Angst" zu erzeugen, und der überhaupt nur in der Downing Street gelandet ist, weil die Briten die Tories nach 14 Jahren an der Regierung deutlich mehr hassten, als sie Labour liebten?

"Der Weg zur nationalen Erneuerung ist lang und schwierig", lautete Keir Starmers Antwort auf dem Parteitag von Labour in Liverpool. "Am Ende aber wartet ein neues Land, ein Land, in dem jeder respektiert wird, in dem Andersartig gefeiert wird – und in dem wir uns Rassismus entgegenstellen!" Es gebe, fährt Starmer unter dem immer lauter werdenden Applaus der Delegierten fort, auch diesen anderen Pfad, den der vermeintlich schnellen Auswege, den der "Schlangengiftverkäufer". Nigel Farage, der Anführer erst des Brexits und jetzt der aufstrebenden Reform-UK-Partei, "mag Großbritannien nicht, er hat keinen Glauben an dieses Land". Wollten Farage und seine Partei wirklich die Probleme dieses Landes lösen? "Oder wollen sie, dass Großbritannien scheitert? Ich glaube, wir kennen die Antwort."

Entweder wir halten durch und bauen das Land neu auf – oder das Gegenteil all dessen, für das Labour steht, kommt an die Macht und zerstört es. So also lautet das Argument. Es ist die klassische Feindbildbeschwörung, mit dem Ziel, die Reihen zu schließen. Nach innen könnte das funktionieren. Nach außen allerdings läuft Starmer damit Gefahr, genau die Zeitgeistwende, die im gesamten Westen gegen den Linksliberalismus eingesetzt wird, nur weiter zu befeuern.

"Sie arbeiten nicht mehr, um zu leben, sondern um zu überleben"

Die Politik von Nigel Farage, Hunderttausende Einwanderer abschieben zu wollen, sei "rassistisch", das hatte Starmer schon zum Auftakt des Parteitags in einem BBC-Interview gesagt. Im Kongresszentrum von Liverpool erntet er für diese neue Kampfansage Respekt. 

Andererseits haben genau solche Maximalvorwürfe an Leute, die eine härtere Migrationspolitik forderten, erst die Reaktanz gegen die etablierten Parteien erzeugt, also einen Gegendruck, von dem Parteien wie Reform UK von Nigel Farage jetzt profitieren. Der Reform-Parteimanager Zia Yusuf, selbst Muslim und Einwanderersohn, griff die Vorlage von Starmer sogleich dankbar auf: "Die Briten haben die Nase voll davon, dass eine politische Elite sie beleidigt, nur weil sie völlig legitime Sorgen wegen der Einwanderung haben."

Margaret Mullane ist eine der Unterhausabgeordneten, die den Backlash gegen Labour in der Arbeiterschicht ganz persönlich erlebt. Ihr Wahlkreis Dagenham and Rainham im östlichen Stadtrand von London droht, an Reform UK verloren zu gehen. Eine gewisse Wut gegen das Establishment habe es dort zwar schon immer gegeben, berichtet Mullane im Gespräch mit der ZEIT. Aber nun komme etwas anderes dazu: Das Leben, das ihre Wähler einmal gekannt hätten, gebe es schlicht nicht mehr. "Viele Leute haben zwei Jobs. Und sie arbeiten nicht mehr, um zu leben, sondern um zu überleben." 

Nigel Farage, Parteichef von Reform UK, am 5. September in Birmingham © Leon Neal/​Getty Images

Mullane ist überzeugt: Reform UK wächst und gedeiht wegen einer tief sitzenden wirtschaftlichen Krise. Die Menschen hätten die Hoffnung verloren, dass es für sie und ihre Kinder bergauf gehe. "Und dann kommt Nigel Farage und sagt ihnen: Schuld daran sind all die Einwanderer."

Wo immer mehr Knappheit herrscht – sei es auf dem Wohnungsmarkt, bei der Gesundheitsversorgung oder auf dem eigenen Konto – wächst auch die Verteilungsempfindlichkeit. Und mit dieser Empfindlichkeit wächst die Abneigung gegen eine Partei, zu deren Kernwerten Solidarität und Umverteilung gehören, inklusive Großzügigkeit gegenüber Zuwanderern. 

Diesen Zusammenhang hat auch Nick Lowles erlebt. Der Gründer der Organisation "Hope not Hate" hat gerade ein Buch über die aufstrebende neue Rechte veröffentlicht, für das er in Arbeitervierteln in ganz England recherchiert hat. "Es ist wahrscheinlich ähnlich wie in Deutschland", sagt er. Eine Deindustrialisierung, die nicht zuletzt traditionelle Zusammengehörigkeitsgefühle habe reißen lassen, hätte für einen immer tiefer gehenden Pessimismus gesorgt. Dieser Pessimismus, dieser Abstiegsfrust, finde jetzt in der Migrationsdebatte ein Ventil.