Vor der Bundestagsdebatte: SPD-Parlamentsgeschäftsführer sieht noch erheblichen Beratungsbedarf in der Koalition
Vor der ersten Debatte im Bundestag über das Gesetz zum neuen Wehrdienst sieht SPD-Parlamentsgeschäftsführer Dirk Wiese noch erheblichen Beratungsbedarf in der Koalition. „Entscheidend ist, dass das Gesetz am 1.1.2026 in Kraft tritt“, sagte Wiese am Donnerstag im „Morgenmagazin“ des ZDF. Eine „finale Einigung“ zwischen Union und SPD auf die konkrete Ausgestaltung des neuen Wehrdiensts müsse „Ende November, Anfang Dezember“ stehen, damit der Bundestag abschließend darüber abstimmen könne.
Wiese warb um Verständnis dafür, dass die von Verteidigungsexperten beider Fraktionen erzielte Einigung über ein Losverfahren im neuen Wehrdienstmodell kurzfristig von SPD-Seite wieder zurückgezogen worden sei. In der Sitzung der SPD-Fraktion habe es zu dem Losverfahren am Dienstag „eine kritische Diskussion gegeben, das kann man nicht vom Tisch wischen“, sagte Wiese. Es stünden „kritische Nachfragen“ im Raum: „Ist das rechtlich sicher? Ist das mit der Verfassung in Einklang zu bringen?“
Steinmeier wünscht sich Dienstpflicht für alle
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sieht ein mögliches Losverfahren bei der Auswahl von Wehrpflichtigen skeptisch. „Die (Koalitionäre) müssen selbst bewerten, ob das Losverfahren wirklich ein taugliches Verfahren ist. Lassen Sie mir etwas Zweifel zu“, sagte er dem SWR-Magazin „Zur Sache Rheinland-Pfalz“.
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Am Dienstag war eine Einigung von Unterhändlern der schwarz-roten Koalition auf ein Losverfahren überraschend geplatzt. Damit gehen Union und SPD heute ohne ein gemeinsames Konzept in die ersten parlamentarischen Beratungen über einen neuen Wehrdienst.
Auslöser des jüngsten Streits in der Koalition war die Frage, ob möglicherweise ein Losverfahren bei der Wehrpflicht eingeführt werden soll, wenn sich nicht genügend Freiwillige zum Wehrdienst melden. Als Präsident muss Steinmeier das Gesetz unterschreiben, damit es in Kraft tritt. Zuvor hat er ein Prüfungsrecht, das unter anderem die Frage umfasst, ob das Gesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Zuletzt verweigerte ein Präsident 2006 seine Unterschrift
Bislang kam es in der Geschichte der Bundesrepublik erst achtmal vor, dass ein Präsident ein Gesetz nicht unterzeichnete. Zuletzt war das 2006 der Fall, als der damalige Amtsinhaber Horst Köhler erst dem sogenannten Luftsicherheitsgesetz – das die Sicherheit des zivilen Luftverkehrs in Deutschland regelt – und kurz darauf auch dem Gesetz zur Neuregelung der Verbraucherinformation seine Unterschrift verweigerte.
Steinmeier bezeichnete den Streit über die Wehrpflicht als „kommunikative Fehlleistung“. Er „glaube, das sehen mittlerweile nach einigen Stunden Abstand auch die Beteiligten selbst ein“. Und er hoffe, dass das relativ schnell bereinigt werde.
Pressekonferenz nach Unstimmigkeiten abgesagt
Am Dienstag wurde eine angekündigte Pressekonferenz der Bundestagsfraktionen von Union und SPD kurzfristig abgesagt, weil es Streit über die Ausgestaltung einer wieder eingesetzten Wehrpflicht gab. „Das, was ich heute aus Berlin gehört habe, ist, dass der Schrecken groß ist. Und wenn der Schrecken groß ist, könnte es dazu führen, dass die Einigungsbereitschaft größer wird“, sagte Steinmeier im SWR.
Der Streit innerhalb der Koalition war in den vergangenen Tagen eskaliert. Fachpolitiker von Union und SPD verständigten sich auf Änderungen am Entwurf von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), den das Kabinett im August beschlossen hatte. Die Vorschläge stießen bei ihm aber auf Widerspruch und wurden entgegen der Ankündigung der Experten dann doch nicht öffentlich vorgestellt.
Vor der ersten Beratung des Gesetzes zum neuen Wehrdienst im Bundestag am Donnerstagnachmittag hat SPD-Fraktionsvize Siemtje Möller um Verständnis für die Bedenken in ihrer Fraktion gebeten. „Die aktuelle Diskussion, auch innerhalb unserer Fraktion, zeigt, wie sehr dieses Thema die Gesellschaft bewegt“, sagte die Wehrexpertin am Donnerstag der Nachrichtenagentur AFP in Berlin. „Es betrifft nahezu jede Familie in unserem Land.“

© IMAGO/dts Nachrichtenagentur
Die Bundesregierung sei es „den Menschen, insbesondere den jungen Frauen und Männern, die betroffen sein werden, schuldig, eine verantwortungsvolle und zukunftsfähige Entscheidung zu treffen“, sagte Möller weiter. Ihrer Fraktion sei ein Wehrdienstmodell wichtig, das „auf das Prinzip der Freiwilligkeit setzt“. Daran werde die SPD-Fraktion in den weiteren parlamentarischen Beratungen mit dem Koalitionspartner Union „konsequent arbeiten“.
Schülervertreter zur Wehrpflicht: Erst mal mit uns reden
Der Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz, Quentin Gärtner, beklagte, dass junge Menschen in der Debatte über die Wehrdienstreform nicht gehört würden. „Vielleicht sollte sich die Bundesregierung erst mal anständig mit den Betroffenen auseinandersetzen, statt sich in koalitionsinternen Scharmützeln zu verkämpfen“, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).
Verfassungsrechtler: Musterung per Los kaum vereinbar mit Grundgesetz
Der Oldenburger Verfassungsrechtler Volker Boehme-Neßler hält eine Rekrutierung von Wehrdienstleistenden über ein Losverfahren für schwer vereinbar mit dem Grundgesetz. Ein den gesamten Jahrgang erfassendes Musterungssystem sei dem Losverfahren, wie es derzeit in den Bundestagsfraktionen von SPD und Union diskutiert wird, verfassungsrechtlich vorzuziehen, sagte der Professor dem Evangelischen Pressedienst (epd). Der Jurist ist nach eigenen Angaben seit mehr als vierzig Jahren Mitglied der SPD.
Der Vorschlag sieht vor, den Kreis der zu Musternden per Los zu bestimmen, wenn sich nicht genügend Freiwillige für den Wehrdienst finden. Dies sei zwar weniger aufwändig als eine flächendeckende Musterung, wie sie bis zur Aussetzung der Wehrpflicht 2011 bestand. Aus Verfassungssicht sei dies aber kein Argument, betonte der Jurist. „Der Staat darf es sich nicht zu leicht machen. Wir reden hier über Einschränkungen der Grundrechte auf Freiheit und Leben.“ Ein Losverfahren könne nur die ultima ratio sein.
Wenn der Staat mehr Soldaten haben wolle, müsse er eine Infrastruktur schaffen, die eine „möglichst grundrechtsschonende“ Rekrutierung ermöglicht, sagte Boehme-Neßler. Ausgewählt werden müsse dabei wie bis 2011 nach Kriterien der Eignung und der Wehrgerechtigkeit, also beispielsweise nach Gesundheit und familiärer Bindung.
Zur Verfassungsmäßigkeit gibt es unter Juristen aber unterschiedliche Meinungen. Die Union gab zum Losverfahren beim Verfassungsjuristen Udo di Fabio ein Gutachten in Auftrag, der das Zufallsprinzip für gerecht hält, wenn längst nicht alle 300.000 jungen Männer eines Jahrgangs benötigt werden: „Die Bestimmung des Kreises der aktiv Wehrpflichtigen mittels eines Losverfahrens ist mit dem Grundsatz der Wehrgerechtigkeit aus Art. 12a Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar“, schreibt der.
„Die andauernde Verunsicherung führt bestimmt nicht zu mehr Akzeptanz bei jungen Menschen. Wir befinden uns ohnehin schon in einer Krise der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen“, sagte der Schülervertreter. „Man zockt nicht um junge Menschen.“