"Der Winter ist da. Die Menschen brauchen mehr als nur zu essen"
In den vergangenen zwölf Wochen ist Mirjana Spoljaric, die Präsidentin des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK), um die Welt gereist, nach China, in die USA, nach Saudi-Arabien, Kuwait, Thailand und auf die Philippinen. An diesem Wochenende ist sie aus Kolumbien nach Hamburg gekommen, um für ihre Organisation den Marion-Dönhoff-Preis entgegenzunehmen. Ein kurzer Zwischenstopp, bevor sie am Montag in Genf das stark gekürzte Budget des IKRK präsentieren wird. Das Interview mit der ZEIT findet am Sonntagmorgen im Hotel Atlantic statt.
DIE ZEIT: Frau Spoljaric, global betrachtet gibt es rund 130 bewaffnete Konflikte, so viele wie nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Wie erklären Sie sich das?
Mirjana Spoljaric: Heute gibt es mehr internationale bewaffnete Konflikte, die mit sehr vielen Ressourcen geführt werden – mit Kriegsmaterial, Kämpfern, logistischer Unterstützung und finanziellen Mitteln von Drittstaaten. Ein Beispiel: Im Krieg zwischen der Ukraine und Russland zählen wir derzeit rund 170.000 Vermisste. Das sind aus unserer Sicht Zermürbungskriege mit einer hohen Zahl ziviler Opfer. Ähnliches sehen wir in Gaza oder im Sudan. Das liegt auch an einer zunehmenden Aushöhlung des Rechts in bewaffneten Konflikten. Das Recht wird gebrochen, aber auch instrumentalisiert, um militärische Ziele zu verfolgen. Das muss aufhören.
ZEIT: Warum hat das humanitäre Völkerrecht heute so einen schweren Stand?
Spoljaric: Lassen Sie es mich so ausdrücken: Es ist eine Anhäufung von zu viel Toleranz. Wir sind abgestumpft, was menschliches Leid betrifft. Wir sehen die Bilder in Gaza. Wir sehen die Bilder im Sudan. Und trotzdem passiert zu wenig, um dem Leid Einhalt zu gebieten. Natürlich ist jede bewaffnete Gruppe an das humanitäre Völkerrecht gebunden, aber die Hauptverantwortung liegt bei den Staaten. Sie müssen mehr dafür tun, dass dieser gefährliche Trend von immer mehr bewaffneten Konflikten rückgängig gemacht wird. Die Staaten haben nicht nur die Pflicht, sich selbst ans Völkerrecht zu halten, sondern auch sicherzustellen, dass das Völkerrecht eingehalten wird und keine Kriegsverbrechen geschehen.
ZEIT: Zuletzt wurden die Nothelfer selbst Opfer gezielter Angriffe. Auch die Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung (darunter das IKRK) hat in den vergangenen zwei Jahren mehr Mitarbeitende verloren als in den zehn Jahren davor: 63 Mitarbeitende wurden 2024 und 2025 bei Einsätzen getötet. Wie wägen Sie unter diesen Umständen die Risiken für Ihre Leute ab?
Spoljaric: Angriffe auf humanitäre Helfer sind eine klare Verletzung des humanitären Völkerrechts und dürfen nicht toleriert werden. Wir passen natürlich unsere Sicherheitsmaßnahmen an und ziehen uns aus Gebieten zurück, wenn es zu gefährlich ist. Leider. Die Verringerung der Mittel für die humanitäre Hilfe führt außerdem zu weniger Präsenz im Feld. Das macht die Einsätze für unsere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen noch gefährlicher. Hinzu kommen neue Technologien, die das Risiko zusätzlich erhöhen.
ZEIT: Mit neuen Technologien meinen Sie zum Beispiel den Einsatz von Drohnen?
Spoljaric: Es geht vor allem um Drohnen, aber auch um künstliche Intelligenz, um Cyberoperationen. Hinzu kommt das ganze Problem der Desinformation. Jedes Mal, wenn Hasskampagnen gegen humanitäre Helfer oder Organisationen lanciert werden, erhöht das die Unsicherheit der Mitarbeiter. Ich habe das selbst erlebt in verschiedenen Kontexten, in denen ich direkt bedroht wurde und erfahren habe, wie es meinem Kollegen und Kolleginnen im Feld ergeht.
ZEIT: Wie gehen Sie damit um?
Spoljaric: Wir investieren zum einen in Sicherheit und wollen die Risiken so weit wie möglich minimieren. Und wir setzen uns politisch und diplomatisch dafür ein, dass mehr getan wird, um humanitäre Organisationen zu schützen. Es braucht auch mehr Kommunikation, um zu erklären, warum diese neutrale, unparteiische Hilfe nötig ist. Weil Staaten im Krieg nie neutral sind. Deswegen haben sie ja über die Genfer Konvention das IKRK geschaffen: damit wir als neutraler Mittler agieren können. Nehmen Sie unsere Operationen in Gaza, die Rückführung von Geiseln und Tausenden Gefangenen. So etwas bedarf des Vertrauens aller Parteien, und es bedarf der Expertise.
ZEIT: Wie muss man sich eine solche Geiselübergabe vorstellen? Was passiert im Hintergrund, wie stellen Sie sicher, dass alles funktioniert?
Spoljaric: Das sind hochkomplexe, gefährliche Operationen. Damit niemand dabei zu Schaden kam, haben wir Ärzte und Ärztinnen, Haftanstalt- und Minenexperten aus der ganzen Welt eingeflogen. Es braucht fein abgestimmte Sicherheitsgarantien, es braucht Kommunikationsmittel, Transportmittel. Tausende Gefangene müssen registriert und interviewt werden. All das erfordert Wissen und über Jahrzehnte aufgebautes Vertrauen zwischen dem IKRK und den betreffenden Kriegsparteien. Vertrauen in unsere absolute Neutralität, Diskretion und Unparteilichkeit. Wir stellen uns immer auf die Seite der Personen, die wir mit ihren Familien vereinen müssen. Wir nehmen dafür vieles in Kauf. Und natürlich sprechen wir auch mit den Parteien darüber, was eine würdevolle Behandlung ist.
ZEIT: Eine oft gehörte Kritik am IKRK lautet, dass es auch angesichts massiver Menschen- und Völkerrechtsverletzungen auf Neutralität beharre und zu wenig Stellung beziehe. Zum Krieg in Gaza haben Sie sich Ende September ungewöhnlich deutlich geäußert: "Was wir heute in Gaza sehen, lässt sich nicht rechtlich, nicht moralisch und auch nicht militärisch rechtfertigen." Was hat Sie dazu bewogen?
Spoljaric: Alles, was wir sagen, ist überlegt und abgewogen. Wir tun das nicht leichtfertig. Ich spreche im Namen der Organisation. Wir haben Hunderte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Gaza. Wir haben Kolleginnen und Kollegen verloren. Wir müssen Dinge ansprechen, damit die Welt sich bewusst wird, dass es Grenzen gibt, wenn es darum geht, menschliches Leid zuzufügen. Wenn es darum geht, Menschen in ihrer Menschenwürde zu entblößen. Wenn man diese Dinge zu lange toleriert, muss man damit rechnen, dass der nächste Konflikt noch brutaler sein wird. Dass der nächste Konflikt unsere Möglichkeit, Hilfe zu leisten, übersteigen wird. Jede Aushöhlung des humanitären Völkerrechts wird im nächsten Konflikt widergespiegelt.
ZEIT: Zeigt das nicht, dass Ihre Neutralität an Grenzen stößt? Weil die Verstöße so eklatant sind, dass Sie sich positionieren müssen?
Spoljaric: Ich rufe alle Parteien dazu auf, sich an das humanitäre Völkerrecht zu halten. Zivilisten und zivile Infrastruktur zu schützen und Gefangene human zu behandeln, das sind rechtliche Pflichten, an die sowohl Staaten als auch nicht staatliche Parteien gebunden sind. Wir machen hier keinen Unterschied, und deswegen bleiben wir in jedem Moment neutral.
ZEIT: Sie sind während des Kriegs mehrmals nach Gaza gereist. Können Sie beschreiben, was Sie dort erlebt haben?
Spoljaric: Was ich in Gaza gesehen und erlebt habe, sollte man nicht erleben müssen. Das sollte die Welt, die Staatengemeinschaft nicht geschehen lassen. An dieser Stelle muss ich betonen, dass ich mich regelmäßig auch mit den Familien der Geiseln getroffen habe …
ZEIT: … der israelischen Geiseln der Hamas …
Spoljaric: … und nachvollziehen kann, welches Leid auch sie durchgemacht haben. Ich habe mit Kindern in Gaza gesprochen, die mir gesagt haben, dass sie Angst haben. Die mich gefragt haben, wann sie wieder zur Schule gehen können. Es ist schwierig, in solchen Momenten keine Empathie zu empfinden. Und ich appelliere an Politiker und Staatsführer, empathischer zu werden, sich bewusst zu werden: Wenn man Menschen solchem Leid aussetzt, nimmt man automatisch in Kauf, dass man sich früher oder später selbst in dieser Lage befinden könnte.