Ohne Wurst und Wehmut
Falls jemand eine Strichliste darüber geführt hat, wie oft die Namen "Robert Habeck" und "Annalena Baerbock" an diesem Wochenende durch die Messehalle 7 in Hannover geschwebt sind, so war dieser jemand die am wenigsten beschäftigte Person auf dem 51. Parteitag der Grünen. Sehnsucht nach den verloren gegangenen Stars, Trauer um den Charismaverlust an der Spitze, erste Rückrufversuche, Tränen gar über den Rückzug des politischen Glamourpaares? Davon waren die Grünen bei ihrem ersten Jahrestreffen nach dem Abgang der beiden so weit entfernt wie vom Umfragehoch zur Fridays-for-Future-Zeit.
Für das Denken, Reden, Motivieren und Wählerfangen ist fortan nicht mehr der Großcharismatiker Habeck allein verantwortlich – dafür müssen nun mehr oder weniger alle ran. Und wenn man die kämpferische Stimmung bei der ebenso wehmuts- wie wurstfreien Veranstaltung in Hannover (das kulinarische Angebot bestand im Kern aus veganen Wraps, Käsebrötchen und Pizza Verdura) richtig deutet, so empfinden das nicht wenige als eine Art Befreiung. Selbstmitleid in Currywurstsoße zu ertränken, bleibt somit einstweilen eine Domäne der Sozialdemokraten. Bei den Grünen traf man in Hannover hingegen auf etwas, was zu Ampelzeiten bei ihnen bestenfalls in Spurenelementen vorhanden war, und das auch nur am Anfang: gute Laune.
Um die Wurst ging es trotzdem, und zwar in Form von Grillgut. Die Grünen sind sehr gut darin, den Eindruck zu erwecken, als betrachteten sie Menschen, die in Zeiten des Klimawandels noch Schweinenackensteaks über Holzkohle brutzeln, mit dem Flugzeug nach Malle fliegen oder mit dem Verbrennermotor die A7 hinunterbrettern, als Heimatvertriebene aus der moralischen Schmuddelecke. Damit soll nun Schluss sein, man will diesen Menschen offener, mit mehr Respekt entgegentreten, um dem Image der elitären, besserverdienenden Verbotspartei entgegenzuwirken.
Inhaltlich macht sich dieser inklusive Ansatz in der deutlich stärkeren sozialen Abfederung bei allen Maßnahmen zum grünen Identitätsthema Klimaschutz fest. Doch schwieriger als beim Programm dürfte die Veränderung beim Verhalten fallen: Der Abstieg vom hohen Ross der moralischen Überlegenheit ist ein schwieriger Prozess und war in der Grünen-DNA noch nie angelegt. Dass jetzt, beim Absteigen, so manche – wie etwa der Co-Vorsitzende Felix Banaszak oder der Spitzenkandidat bei der Landtagswahl in Berlin, Werner Graf – den Proletarier im Grünen herauskehren und von ihrer Kindheit in Armut erzählen, sollte Grenzen haben. Nicht, dass man noch mit dem Schweinenackengrillen auf Malle die vegane Wrapklientel abschreckt.
Die Umfragen sind schlecht, die Lage ist prekär
"Ängstliche Parteien bilden Meinungen ab, mutige Parteien gestalten Meinungen" – mit diesem Kernsatz ihrer dreiminütigen Rede hat Ricarda Lang, ehemalige Vorsitzende und Führungsreserve in Personalunion, den Parteitag gerockt. Mutig wollen sie nun sein, die Grünen, haben sich in Hannover aber primär kleinmütig gezeigt. Das fing mit der Tagungsordnung an.
Beim wichtigen Thema Außenpolitik (gebündelt in den leicht merkwürdigen Themenmix Ukraine/Nahost/Wehrdienst) drohte gleich mehrfach Ungemach: Eine Abstimmung darüber, ob man Israels Vorgehen in Gaza als Genozid bezeichnen soll, eine über die sofortige Anerkennung eines palästinensischen Staates – und eine über die Ablehnung aller verpflichtenden Elemente beim Wehrdienst. Da in der Debatte erhebliches Krach- und in Abstimmungen gewaltiges Spaltpotenzial lag, verlagerte die Parteitagsregie das Thema von der Kern- in die Randzeit – und ließ am Samstagabend zwischen 21.15 Uhr und 1 Uhr morgens diskutieren. Bei ausgeschalteten Livekameras und ermüdeten Delegierten. Ergebnis: Die Abstimmung über das Wort Genozid wurde in der gewonnenen Zeit ebenso abmoderiert wie die über die Palästinaanerkennung. Und beim Wehrdienst ließ man die Grüne Jugend den Antrag einbringen, eine verpflichtende Musterung, wie im neuen Wehrdienstgesetz von Boris Pistorius vorgesehen, abzulehnen. Doch die Delegierten folgten dem Vorstand, der die Pflichtmusterung befürwortet.
Der eigentliche Streitpunkt, die Frage, ob sie ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr einführen oder nicht, schoben die Grünen auf die lange Diskursbank. Das könne man erst nach einer größeren internen wie gesellschaftlichen Debatte entscheiden, hieß es. Komischerweise läuft diese Debatte bereits seit acht Jahren: Bereits 2017 hatte die damalige CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer ein solches Jahr vorgeschlagen. Zeit genug also, um wissen zu können, was man will.
Dass der Kampfesmut der Grünen derzeit (noch) deutlich größer scheint als der Programmmut, liegt auch daran, dass das Superwahljahr 2026 bereits seine Restriktionen vorauswirft. Fünf Landtagswahlen stehen an, darunter die in Baden-Württemberg, dort also, wo der einzige Ministerpräsident der Grünen zu Hause ist. Die Umfragen sind schlecht, die Lage ist prekär, und da will am Ende niemand dafür verantwortlich gemacht werden, wenn die grüne Ära im deutschen Süden im Frühjahr 2026 enden sollte. Folglich wird alles Strittige in die Zeit nach Ba-Wü verlagert. Mit der Folge, dass sich die Wahlkämpfer nun freihändig aus dem politischen Instrumentenkasten bedienen dürfen. So werden zum Beispiel die Berliner, wo im kommenden Jahr gewählt wird, ein klares Bekenntnis zu einem Mietendeckel in ihr Programm schreiben und die Baden-Württemberger eine ebenso klare Ablehnung. Das mag zur jeweiligen Klientel passen. Es passt aber nicht zu einer Partei, von der man nach dreieinhalb Jahren Regierungskompromissen wissen will, wofür sie im Kern steht.
Kämpferisch, wehmutsfrei, sozialer, weniger von oben, mutiger in Worten als in Beschlüssen – das ist der Eindruck, den man von den Grünen aus Hannover mit nach Hause nimmt. Wohin die Partei genau will, außer zu einer sozial gerechteren Klimapolitik, ist noch unklar. Und wer genau den Weg weisen soll, auch. Sicher ist nur: Habeck und Baerbock werden es nicht sein. Und genau darin liegt die Chance. Die Zeit der Grünen als Fanklub ist vorbei. Sie sind jetzt wieder eine Partei zum Mitmachen.