„Werden nicht darum herumkommen, zwischen verschiedenen Berufsgruppen zu differenzieren“

CDU-Politiker Nicklas Kappe, 29, ist seit März Mitglied des Bundestags. Der Chemie-Ingenieur ist direkt gewählter Abgeordneter für den Bundestagswahlkreis Bottrop – Recklinghausen III.

WELT: Herr Kappe, wie zerrissen ist die Unionsfraktion nach dem internen Streit über die Rente?

Nicklas Kappe: Die Unionsfraktion steht weiter fest zusammen. Sie hat allerdings gezeigt, dass in ihr eine Volkspartei mit unterschiedlichen Strömungen steckt. In diesem Fall war es die Junge Gruppe, die gemeinsam mit anderen hart dafür gekämpft hat, dass wir keine Vorfestlegung über den Koalitionsvertrag hinaus nach 2031 treffen. Aber allen ist nun klar: Jetzt muss es nach vorne gehen, wir brauchen Reformen.

WELT: Durchsetzen konnte sich die Junge Gruppe mit ihrem Widerstand nicht, obwohl man inhaltlich in Ihrer Fraktion überwiegend ihrer Meinung war. Warum?

Kappe: Ja, es gab leider keine Änderungen mehr am Entwurf, das hätten wir uns gewünscht. Aber die öffentliche Debatte hat sich deutlich massiv verschoben. Der Reformdruck auf die Bundesregierung und auf Rentenkommission hat sich erhöht. Und: Im Koalitionsvertrag war vorgesehen, dass die Kommission erst bis zur Mitte der Legislatur Ergebnisse liefern soll. Diese Debatte hat bewirkt, dass die Rentenkommission noch in diesem Jahr eingesetzt wird und bereits bis Mitte nächsten Jahres Ergebnisse vorlegen soll – nicht erst 2027. Also: „Nichts erreicht“ lasse ich nicht gelten.

WELT: Nicht alle aus der Jungen Gruppe haben gegen das Gesetz votiert, manche haben zugestimmt. Sind das Umfaller?

Kappe: Es gab für jeden persönliche Beweggründe und Nuancen. Das sind für mich keine Umfaller. Ich finde, wenn man mit sich ringt und am Ende zu einer fundierten Entscheidung kommt, ist das auch ein Zeichen von Stärke.

WELT: Sie haben sich enthalten. Ist das nach der heftigen Kritik nicht ein sehr indifferentes Votum?

Kappe: Ich kann die Kritik verstehen: Bei einer Enthaltung heißt es schnell, man müsse sich doch positionieren. Ich war am Samstag nach der Abstimmung in meiner Heimatstadt Dorsten unterwegs, wir haben Nikoläuse verteilt, da bekommt man sehr direktes Feedback. In der Abwägung zwischen den inhaltlichen Argumenten und der Tragweite des Themas habe ich mich für einen Kompromiss entschieden, die Enthaltung. Weil ich will, dass genau diese Bundesregierung die notwendigen Reformen anstößt und zeigt, dass die politische Mitte die großen Probleme lösen kann.

WELT: Wie sieht das aus, wenn man vom Fraktionsvorsitzenden Jens Spahn (CDU) in den „Beichtstuhl“ gebeten wird – also so lange bearbeitet wird, bis man auf Linie ist?

Kappe: Diese „Beichtstuhl“-Metapher – und es gab ja noch deutlich schlimmere in der vergangenen Woche – verstehe ich nicht. Dass wir miteinander ringen und dass die Fraktionsführung mit den einzelnen Abgeordneten in einen sehr intensiven Diskurs geht, gerade bei einer so wichtigen Frage, halte ich für völlig normal. Wenn man da eine Woche lang in Ruhe gelassen würde, würde ich mir eher Sorgen machen.

WELT: Kritiker des Gesetzes zur Stabilisierung des Rentenniveaus, auch aus der Jungen Gruppe, stören sich daran, dass die sogenannte Haltelinie über das Jahr 2031 hinaus fixiert wird. Ist es realistisch, dass das wieder aufgelöst wird – dass die geplante Rentenreform-Kommission eine Lösung findet, die die Milliardenkosten für kommende Generationen vermeidet?

Kappe: Die Stabilisierung bis 2031 ist fix, das ist Koalitionsvertrag, das haben wir zugesagt. Aber wir brauchen strukturelle Reformen in mehreren Bereichen der Rente – inklusive einer völlig neuen Betrachtungsweise, wie wir das Thema angehen. Dann wird die Frage sein, wie viel von diesem jetzigen Gesetzespaket und der Detaildebatte nach 2031 überhaupt noch relevant ist. Das kann ich heute nicht beantworten.

Ich möchte Generationengerechtigkeit, die wir über einen Kompromiss erreichen. Gleichzeitig müssen wir darauf achten, dass es im Sozialsystem keine einseitigen Verlierer gibt. Die Rente ist keine reine Mathematik. Sie ist mit persönlichen Schicksalen, Lebensleistungen und Identität verbunden. Das müssen wir in Einklang bringen. Dafür reicht die Fixierung auf eine einzige Kenngröße nicht aus.

WELT: Welche Punkte sind entscheidend, damit die Rente „sicher“ ist?

Kappe: Entscheidend wird sein, dass wir wegkommen von einer starren Altersgrenze und den Renteneintritt flexibilisieren. Richtig ist, stärker auf die Jahre zu schauen, die jemand eingezahlt hat. Wer mit 18 in die Ausbildung geht und ab da im Beruf steht, sollte das angerechnet bekommen gegenüber jemandem, der erst mit 25 oder 28 einsteigt.

Am Ende kommt es darauf an: Wie lange hat jemand gearbeitet, was ist die Lebensleistung, wie lange kann jemand arbeiten? Wir werden nicht darum herumkommen, zwischen verschiedenen Berufsgruppen zu differenzieren. Ich fange jetzt nicht mit dem sprichwörtlichen Dachdecker an – aber wir müssen schauen, welche Berufsgruppen aus welchen Gründen länger arbeiten können als andere.

WELT: Ist das nicht eine Benachteiligung von Menschen, die sich lange in einem Studium auf ihr Berufsleben vorbereiten? Müsste die Studienzeit dann nicht Teil der Beitragsjahre sein?

Kappe: Da ist die Frage, welchen Teil des Studiums man betrachtet. Im chemischen Bereich, wo ich zu Hause bin, wird zum Beispiel häufig promoviert. Da reden wir von drei bis vier zusätzlichen Jahren, in denen man bereits eine Anstellung hat. Die meisten, die ich kenne, arbeiten spätestens ab dem Bachelorabschluss, häufig schon im Masterstudium. Dass solche Zeiten angerechnet werden, finde ich richtig. Das klassische Vollzeitstudium ohne Arbeit nebenher und ohne Praxiserfahrung ist für mich etwas anderes. Da sehe ich keine Benachteiligung, zumal es in vielen akademischen Berufen einfacher möglich ist, länger zu arbeiten.

WELT: Ist es wirklich richtig zu sagen: Wer körperlich hart arbeitet, soll früher gehen können, wer „mit dem Kopf“ arbeitet, später? Auch im Kopf lassen die Kräfte nach.

Kappe: Das sind die Fragen, die die Rentenkommission diskutieren wird. Etwa, ob man über Jobwechsel innerhalb einer Branche hin zu weniger körperlich anstrengenden Tätigkeiten zu Lösungen kommt. Ein wesentlicher Teil des Pakets vom vergangenen Freitag ist, dass wir hin zu mehr Freiwilligkeit wollen und mehr Anreize schaffen, gerne länger zu arbeiten – vielleicht nicht in Vollzeit, vielleicht in Teilzeit. Dafür gibt es ab 1. Januar 2026 steuerliche Erleichterungen mit der Aktivrente. Das ist in der öffentlichen Diskussion bislang zu kurz gekommen.

Und wir brauchen Fachkräfte: Wenn die Babyboomer in großer Zahl in Rente gehen, verlieren wir enorm viel Know-how und Praxiserfahrung. Je besser es uns gelingt, über flexible Systeme und Anreize Menschen zu motivieren, freiwillig länger zu arbeiten, desto stärker gewinnen wir doppelt. Deswegen hilft es nicht, sich auf eine Kenngröße zu fokussieren oder einen Konflikt zwischen Handwerkern und Akademikern zu konstruieren. Es braucht eine differenzierte Betrachtung der Berufsbilder und die Möglichkeit, das System zu flexibilisieren – weg von starren Grenzen.

WELT: Wie bewerten Sie den Vorschlag, das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung zu koppeln?

Kappe: Ich halte eine Flexibilisierung grundsätzlich für richtig. Eine Anpassung der Lebensarbeitszeit an die steigende Lebenserwartung ist sinnvoll. Die Frage ist, wie flexibel man das umsetzt und in welchen Schritten man die Regeln immer wieder überprüft und anpasst.

WELT: Müssen wir uns insgesamt darauf einstellen, länger zu arbeiten?

Kappe: „Wir“ ist sehr pauschal. Ich mit meinen 29 Jahren habe mich schon lange darauf eingestellt, länger arbeiten zu müssen als meine Eltern oder Großeltern. Ich kenne viele, die gerne arbeiten und eher fragen: Welcher Job ermöglicht mir, möglichst lange und gerne zu arbeiten – ohne nur auf das Datum des Renteneintritts zu starren? Und zur Altersabsicherung gehört ja mehr als die gesetzliche Rente.

Die entscheidende Frage lautet: Wie kann ich neben der gesetzlichen Rente vorsorgen? Vor allem das Thema Betriebsrenten kommt mir in der Debatte zu kurz. Heute bleiben Arbeitnehmer nicht mehr 40 Jahre beim gleichen Arbeitgeber. Deswegen müssen wir die betriebliche Altersvorsorge so organisieren, dass man bei Jobwechseln solche Ansprüche möglichst einfach mitnehmen kann und sich im Laufe des Arbeitslebens eine echte zusätzliche Säule neben der gesetzlichen Rente aufbaut.

WELT: In der Rentenreform-Kommission sollen sechs Mitglieder auf SPD-Ticket sitzen und sieben auf Unions-Ticket. Beschlüsse werden mit Mehrheit gefasst. Die SPD fürchtet, überstimmt zu werden. Droht dort neuer Streit?

Kappe: Ich glaube, alle haben aus der jüngsten Debatte gelernt, dass wir zukunftsfähige Reformen nur gemeinsam anstoßen und umsetzen können. In einer solchen Kommission muss es jetzt um die Sachfragen gehen. Politische Spielchen sind tabu. Über Möglichkeiten wie Minderheitsvoten kann man auch unterschiedliche Meinungen abbilden. Eine solche Kommission tagt ja nicht sechs Monate lang nur hinter verschlossenen Türen und kommt dann an einem Tag mit einem Ergebnis heraus. Wir werden eine öffentliche Debatte begleitend dazu haben. Es geht nicht darum, jemanden zu überstimmen. Und am Ende liegt die politische Entscheidung ohnehin beim Bundestag.

WELT: Was wird der größte Konfliktpunkt in dieser Kommission? In der Unionsfraktion gibt es Unmut darüber, dass auch beraten werden soll, ob künftig auf Kapitalerträge Rentenbeiträge fällig werden.

Kappe: Ich möchte an dieser Stelle auf den Ökonomen Clemens Fuest verweisen, der sehr anschaulich erklärt: Wir reden darüber, mehr Geld in den Topf zu tun, und glauben, der Kuchen werde automatisch größer. Dabei müssen wir bedenken, dass daraus auch neue Ansprüche entstehen. Das ist die gleiche Debatte wie bei der Frage, wer künftig alles zusätzlich einzahlen soll. Wenn zwar mehr Geld hineinfließt, dadurch aber neue Ansprüche entstehen, ist das nicht zwingend ein Gewinn.

Bei Kapitalerträgen ist die entscheidende Frage: Würden aus den Beiträgen, die auf Kapitalerträge erhoben werden, auch Rentenansprüche entstehen? Wenn nicht, wird das Modell voraussichtlich in Karlsruhe scheitern. Wenn doch, muss man ehrlich fragen, ob unterm Strich wirklich ein Gewinn für das System bleibt. Ich hätte da meine Zweifel.

Nikolaus Doll berichtet über die Unionsparteien und die Bundesländer im Osten.